Tutti-Ergebnis per Tastendruck

Trübe Aussichten für Chöre – Die häufig älteren Sänger fühlen sich bei virtuellen Proben oft abgehängt

Finden sich per digitaler Technik zu einem großen Chor zusammen: Sängerinnen und Sänger der Landauer Kantorei. Foto: KB

Spätestens seit jenem Fall, als sich im März drei Viertel des Berliner Domchors bei den Endproben zu einem Sakralmusical mit dem Coronavirus ansteckten, ist Singen in Gemeinschaft absolutes Tabu. Schuld sind die beim Singen freigesetzten Aerosole, die nach pessimistischer Einschätzung bis zu drei Stunden durch die räumliche Luft wabern und Covid-19 komfortable Streubedingungen bescheren. Präzise wissenschaftliche Erkenntnisse dazu fehlen noch. Vorsicht ist dennoch geboten.

Die Homepage des Amts für Kirchenmusik im Landeskirchenrat tut es mit einem unzweideutigen Satz kund: „Chorproben sind derzeit untersagt.“ Während das gesellschaftliche Leben sich behutsam wieder zu öffnen beginnt, sehen die Perspektiven für die Chorgemeinschaften eher trübe aus. Mittlerweile haben sich die Bezirkskantoren nicht nur von ihren Sommeraktivitäten verabschiedet, sondern denken schon für die Weihnachtszeit über klein besetzte „Notprojekte“ nach.

Momentan kursieren zwei Stichworte im großen Rund der etwa 12000 singenden Protestanten in der Pfalz und Saarpfalz: Kommunikation und Zoom. Beides hängt eng zusammen und schließt sich doch an Stellen aus. Das Videokonferenzprogramm Zoom ermöglicht gemeinsames Singen am Bildschirm. Man kann sich zuschalten, sieht per Webcam sogar den Rest der Truppe, kann lossingen und am Ende das Tutti-Ergebnis vor dem Bildschirm nacherleben. Vorausgesetzt, man verfügt über die technischen Voraussetzungen und ein bisschen Know-how.

Die meisten Bezirkskantorinnen und -kantoren nutzen das Medium. Die es nicht tun, wie beispielsweise Maurice Croissant in Pirmasens, haben gute Gründe. Abgesehen vom musikalisch unbefriedigenden Ergebnis fühlten sich Chormitglieder, die technisch nicht dafür eingerichtet sind, ausgegrenzt, abgehängt. „Oft sind es ja ältere Menschen, die sich damit vorzeitig in den Ruhestand verabschiedet fühlen.“ Dass das kein geringer Anteil ist, beweist die Altersstruktur der Kirchenchöre.

Zum Zweiten spielt Kommunikation eine Rolle. Gerade für viele ältere Sängerinnen und Sänger sind die wöchentliche Chorprobe, die Dienste im Gottesdienst, das Jahreskonzert, auf das sie hinfiebern, eisern proben, die Geselligkeit beim Chorausflug und vieles mehr ein tragendes Stück Lebensinhalt. Einfach unverzichtbar.

Ob sie nach Monaten des Stillstands wieder mit einsteigen werden? Anna Linß, Bezirks- und Stiftkantorin in Landau sieht zwei Fraktionen. „Die einen sagen, ich komme erst wieder, wenn es einen sicheren Impfstoff gibt. Andere haben mir mutig signalisiert, lieber das Risiko einer Infektion einzugehen, als die letzten Jahre auf das Lebenselixier Singen zu verzichten.“

Was freilich das fehlende Training, die Vernachlässigung der Stimmbänder, die fehlende Regelmäßigkeit auch der geistigen Beschäftigung mit den Werken bedeutet, bereitet Linß echte Sorgen. „Wir werden in manchen Bereichen wieder bei null beginnen.“

Nicht nur aus diesem Grund bietet sie an digitalen Übungsprogrammen an, was der Markt hergibt. Zehn viertelstündige Videos zur Stimmbildung hat sie erstellt. Jetzt hofft sie, dass ihre 130 Landauer Choristen freiwillig eifrig üben. Immer donnerstags, zur üblichen Chorprobenzeit, wird Zomm-gestützt geprobt; kleine Einheiten – denn das große Ziel fehlt im Moment.

Ähnlich wie ihre Kollegen in Speyer, Pirmasens oder Homburg sieht auch Anna Linß jedoch in all den digitalen Übungen nicht mehr als eine Hilfskonstruktion. „Es bleibt eine exklusive Nummer“, bekräftigt Maurice Croissant. Wichtiger sei daher die Kontaktpflege – mit E-Mails oder auch einer Postkarte im Briefkasten; jeden Tag ein anderes Chormitglied anrufen. Für die Geburtstagskinder der Woche versendet Anna Linß einen Link mit einem dezidiert ausgesuchten Ständchen aus dem Youtube-Fundus. Es sind die kleinen, die – pardon – oft sehr weiblichen Gesten, deren Samen in der schwierigen Zeit danach aufzugehen versprechen.

Auch die Ideenbörse floriert. Jetzt, wo wenigstens Gottesdienste, wenn auch zahlenreglementiert, wieder erlaubt sind, haben Solisten-gestützte Veranstaltungen Konjunktur. Robert Sattelbergers Abendandachten in der Speyerer Gedächtniskirche etwa – eigentlich verkappte Orgelkonzerte. Und nochmal der Blick nach Landau. Da gruppiert Linß drei, vier Sängerinnen ihrer Jugendkantorei im weiten Bogen; als Vorsänger zur Verstärkung des Gemeindegesangs, der hinter Masken und in der Vereinzelung der Sitzordnung doch recht verzagt daherkommt, aber dann doch ermutigt. Weihnachten, so hoffen es alle, werden sie wenigstens wieder in kleiner Besetzung das Wunder von Bethlehem besingen dürfen. Hoffen auch auf dieses Wunder. Gertie Pohlit

Lebenselixier Musik – Ein Corona-Tagebuch

„Ohne Musik ist das Leben ein Irrtum“, formuliert Peter Gortner, der – sozialisiert in der Pirmasenser Kirchenmusik und der Evangelischen Jugendkantorei der Pfalz – nach dem Studium auf einer Schlüsselposition der badischen Nachbarkirche landete, dem Kantorat an der Christuskirche Karlsruhe.

Sein „Corona-Tagebuch“, das Mitte März beginnt, gewährt tiefe Einblicke; nicht allein in den explosionsartigen Einfall des Digitalen im beruflichen Alltag, sondern auch in seine persönliche Stimmung. Euphorie durch die Entdeckung digitaler Möglichkeiten, von Tag zu Tag schwindende Hoffnung, dass eine Jerusalem-Tournee vielleicht noch zu retten ist; und zunehmend Momente der Resignation. Zu Ostern schreibt er: „So etwas hat es noch nie gegeben in der Geschichte des Christentums: Wir feiern Ostern vor dem Karfreitag, denn das Video muss ja auch noch geschnitten werden. Er ist wahrhaft auferstanden – zwei Tage, bevor alles ,vollbracht‘ ist. Die Welt scheint weiter aus den Fugen geraten.“

Bei den Chorproben, die Gortner über Zoom anbietet, kommt allmählich Frust auf. Über die Anfangsphase – Sounddateien, kleine Videobotschaften bei Youtube, Übungen fürs Heimstudium – ist er bald weg. Jetzt bietet er eine feste Chorprobe zur gewohnten Zeit an „einem Ort“ an. Aber es bleibt musikalisch ein Kompromiss, der vor allem der Kommunikation dient.

Das „Call-and-Response“-Prinzip ermöglicht Vorsingen des Chorleiters und Nachsingen der Choristen. Allein: Es ist eine Einbahnstraße, Nachkontrolle ist nicht möglich. Und es ist letztlich nicht das, was alle entbehren. Musik ist „Lebensmittel“ – die Terminologie des Bundespräsidenten findet Peter Gortner besonders zutreffend. Von unzähligen Menschen höre er – ob nach dem Turmblasen, dem Orgelrecital oder auch der Online-Probe, „dass ihnen Musik Nahrung gibt in dieser schwierigen Zeit“. gpo

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