Massen musikalisch mobilisiert

Das Kirchenlied gilt in der Frühen Neuzeit als Medium von Frömmigkeit und Protest • von Irene Dingel

Musizierend im Kreis seiner eigenen Familie: Martin Luther. Foto: Gemälde von Gustav Spangenberg, um 1875.

Und wenn die Welt voll Teufel wär und wollt uns gar verschlingen“: Sehr bildhaft ist das, was Martin Luther frei nach Psalm 46 in dem Gemeindelied „Ein feste Burg ist unser Gott“ (EG 362) zu Beginn der dritten Strophe gedichtet hat. Auch wenn es nicht bewiesen werden kann, liegt es nahe, dass das Lied ein Reflex auf die persönlichen Erfahrungen Luthers ist. Entstanden ist es irgendwann zwischen 1521 und 1530. Hätte Luther es kurz nach dem Wormser Reichstag geschrieben, bei dem er mit der Reichsacht belegt wurde, könnte es als reformatorisches Kampflied zu lesen sein. Hinter den Zeilen könnten sich aber auch die Erfahrungen des Speyerer Reichstags 1529 verbergen oder die Angst vor der nahenden Pest 1527. Denn auch die Zuversicht auf Gott drückt sich im Lied aus.

So oder so: Oft stecken kollektive und persönliche Erfahrungen hinter gesungenem Lobpreis oder musikalisch artikulierter Klage in Kirchenliedern aus dem 16. und 17. Jahrhundert. Doch Lied und Gemeindegesang sind keine Neuerfindung der Reformation. Im 12. Jahrhundert schon existieren kurze, „leise“ Gemeindestrophen, die auf den Ruf „Kyrieleis“ enden. Sie werden an Festtagen in die vom Klerus gesungene Sequenz eingefügt. Als Beispiel gilt „Christ ist erstanden“, ältester liturgischer Gesang in deutscher Sprache. Neu ist zu Beginn des 16. Jahrhunderts die Inbrunst, mit der das Kirchenlied gesungen wird. Dazu kommen neue Inhalte. Die Übertragung lateinischer liturgischer Stücke ins Deutsche ist schon vor Luther üblich. Er aber beginnt, Psalmen und zentrale biblische Aussagen zu Gemeindeliedern umzuformen.

Alle nach 1524 entstandenen Psalmlieder folgen diesem Wittenberger Impuls. Inhalte eindrücklich und effektiv zu vermitteln, ist der entscheidende Stellenwert, den das Lied in der Reformation erhält. Aber von Luther selbst existieren nur wenige geistliche Dichtungen. „Zwei große Feur sie zünd‘ten an, die Knaben sie her brachten, es nahm groß Wunder jedermann, dass sie solch Pein veracht’ten“, dichtet er 1523 im Märtyrerlied auf die beiden in jenem Jahr hingerichteten Augustinermönche Johannes von den Esschen und Hendrik Voes in Brüssel. „Nun freut Euch, lieben Christen gmein“ (EG 341) wiederum erzählt die Geschichte des Menschen aus reformatorischer Perspektive, eine Zusammenfassung der Rechtfertigungslehre in höchster Kondensation. „Mein gute Werk, die golten nicht, es war mit ihn verdorben.“

Die Lieder erscheinen meist als Einblattdrucke mit einfachen Noten oder als reiner Text mit Angabe einer bekannten Melodie. Ab 1524 werden sie in gesangbuchähnlichen Kleindrucken zusammengefasst. Im Jahr 1524 erscheint Luthers Achtliederbuch unter dem Titel „Etlich Christlich lider / Lobgesang und Psalm“. Das Lied wird zum Medium für die Verbreitung reformatorischer Inhalte, das Gesangbuch durch das Anhängen von Katechismen und Bekenntnissen zu einer kleinen Laienbibel. Bis heute sind in den Gesangbüchern – teils vollständig, teils in Auszügen – die Confessio Augustana, der Kleine Katechismus Luthers, der Heidelberger Katechismus oder die Barmer Theologische Erklärung zu finden.

Im reformierten Raum verhält es sich ähnlich. Dort dient der Psalmengesang der Verkündigung. 1539 bringt Johannes Calvin in Straßburg von dem französischen Dichter Clément Marot bereimte Psalmlieder und eigene Dichtungen heraus. Er lebt dort als Glaubensflüchtling. Weite Verbreitung erreicht der Genfer Psalter, der alle biblischen Psalmen in gereimter, französischer Fassung enthält. Ambrosius Lobwasser bringt ihn 1573 unter dem Titel „Der Psalter des königlichen Propheten David“ in deutscher Sprache heraus. Er entwickelt sich zu einem „öffentlichen Erkennungszeichen reformierter Gemeinden in ganz Europa“, sagt Henning Jürgens vom Leibniz-Institut für Europäische Geschichte.

Das evangelische Lied wirkt integrierend. Die Singenden erfahren sich als Gruppe Gleichgesinnter und Gleichglaubender. Gleichzeitig kann das Lied größere Massen mobilisieren und Protest artikulieren. Der sich zur Reformation bekennende Hochadel von Paris soll sich am Seine-Ufer gegenüber dem Louvre zusammengefunden haben, um dort unter Waffen zu patroullieren und Psalmlieder zu singen. Dieses Verhalten muss nicht als bloße Frömmigkeitsübung verstanden werden. Vielmehr artikuliert der Adel seinen religiösen Standpunkt und zugleich seinen politisch-ständischen Anspruch gegenüber dem katholischen Königshaus.

Aber auch die Täufer entwickeln eigene Lieder. Sie geben Einblick in ein Leben unter Verfolgung und Ausgrenzung sowie in deren Frömmigkeit. Vom Täufer Leonhard Schiemer, der am 14. Januar 1528 in Rattenberg in Tirol enthauptet wird, ist ein Lied überliefert, das folgende Strophe enthält: „Wir schweifen in den Wäldern um, man sucht uns mit den Hunden, man führt uns wie die Lämmlein stumm, gefangen und gebunden.“ Das älteste Gesangbuch der Täufer ist der sogenannte „Ausbund“, in dem sich 51 Lieder einer im Spätsommer 1535 in Passau festgenommenen Täufergruppe finden.

Besonders zahlreich sind die Liederbücher der Hutterer, einer auf den Täuferführer Jacob Hutter zurückgehenden Glaubensgemeinschaft. Sie sind oft aufwändig gestaltet. Meist haben sie ein handliches Format, geschickt, um es auf Reisen mitzuführen oder in Gefangenschaft zu verbergen. Es ist auch ein Medium der Abgrenzung, nicht nur der inneren Erbauung.

Polemik wiederum findet sich im „Lied von den vier zwieträchtigen Kirchen“ des Spiritualisten Sebastian Franck (1499 bis 1542). Er ist zunächst ein Anhänger Luthers, gibt 1528/1529 sein Pfarramt aber auf und wendet sich täuferischen und antitrinitarischen Strömungen zu. In seinem 1530 veröffentlichten Lied lehnt er alle Kirchenbildungen ab und steht für ein individualistisches Christentum ohne sich äußerlich konstituierende Gemeinde ein, ohne Predigt und Sakramente. „Ich will und mag nicht päpstlich sein, der Glaub ist klein bei Mönchen und bei Pfaffen, es wird beim äußerlichen Schein, ihr Herz nicht rein, sie machen d’Leut zu Affen“, heißt es in der ersten Strophe.

Die Frömmigkeit im 17. Jahrhundert schließlich ist geprägt von Bedrohungen. Die Massaker der französischen Religionskriege, Epidemien, Hungersnöte und Wirtschaftskrisen versuchen die Menschen religiös zu bewältigen. Während des Dreißigjährigen Kriegs wird das Kirchenlied „der beste Tröster des Kirchenvolks“, sagt Hans Leube. Erlösung findet sich nur im Jenseits. „Gott ist der rechte Wundermann, der bald erhöhn, bald stürzen kann“, dichtet Georg Neumark 1641 (EG 369), nachdem er auf dem Weg zum Studium in Königsberg beraubt wurde. Zuvor hatte er seine gesamte Jugendzeit im Krieg verbracht. Reaktionen auf diesen Krieg sind auch im Lied „In allen meinen Taten“ von Paul Fleming (EG 368) herauszulesen. Die zähen Friedensverhandlungen von Münster und Osnabrück schließlich bekommt Andreas Gryphius, damals 32 Jahre alt, hautnah mit. Früh Waise, hat er zuvor die Zerstörung seines Heimatorts Glogau und die Verfolgung der Evangelischen im Zuge der Rekatholisierung der Stadt erlebt. „Was wir für ewig schätzen, wird als ein leichter Traum vergehn“, dichtet er 1650 (EG 527). Ein Jahr später wird ein gewisser Paul Gerhardt Pfarrer in Mittenwalde, das sich gerade vom Krieg erholt. Zwei Jahre später sieht er die Menschen wandern „durch so viel Angst und Plagen, durch Zittern und Zagen, durch Krieg und große Schrecken, die alle Welt bedecken“ (EG 58).

Irene Dingel ist Direktorin des Leibniz-Instituts für Europäische Geschichte in Mainz, Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte.

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