Die Dokumentation: Leben in multiplen Krisen

Durch die Corona-Pandemie wird das Versagen des Markts deutlich

Gewinne durch Krankheit: Gesundheit ist kein Wirtschaftsgut. Foto: epd

In der Krise spüren wir, was zählt. Was wir brauchen, was wir nicht existenziell brauchen. Und wir erleben heute: Niemand ist unabhängig. Wir sind verbunden mit allen anderen. Global, weil sich der Virus überallhin verbreitet hat, bis hin zu regional, weil die Unvorsicht und Erkrankung der einen die Behandlung der anderen erschwert und weil wir in heimischer Isolation alle Aspekte psychischer und physischer Abhängigkeit erfahren.

Nichts Neues, dass der Mensch nicht für sich steht. Nur eine von der Ideologie des „homo oeconomicus“ geprägte Welt konnte zu gegenteiligen Sichtweisen gelangen. Andere, wie die Epidemiologin Kate Pickett und ihr Kollege Richard Wilkinson, haben schon vor zehn Jahren in einer Metastudie gezeigt: Das Wohlergehen des Einzelnen ist entscheidend abhängig davon, wie es den anderen in einer Gesellschaft geht. Für Menschen in Industrieländern gilt: Es geht ihnen tendenziell besser, wenn sie in einem Land mit mehr sozialer Gleichheit leben als in einem ungleichen, aber reicheren Land. Das gilt auch für die Reichen einer Gesellschaft.

Ein Grund mag sein, dass der Fokus auf das Wirtschaftliche und die Akzeptanz damit einhergehender Ungleichheit das soziale Fundament einer Gesellschaft erodieren lässt. Der Mensch interagiert also mit allen anderen. Doch trägt die Politik diesen Interdependenzen nicht immer Rechnung. So werden gegenwärtig die Pflegeberufe aufgewertet durch Applaus und einmalig 500 Euro. Doch fragen wir: Was braucht Ihr wirklich?

In einem offenen Brief berichten die Mitarbeitenden des Jenaer Uni-Klinikums aus der Klinikrealität: „Diese Pandemie trifft auf ein Gesundheitssystem, welches für solche Szenarien nicht gerüstet ist. Nicht mehr die Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten stehen im Mittelpunkt, sondern die betriebswirtschaftlichen Gewinne jeder einzelnen Erkrankung!“

Diese Worte sprechen für Probleme, die sich lange abzeichneten. Auch in Vor-Corona-Zeiten operierten Ärzte oft im übernächtigten Zustand, und es starben mehr als 10000 Menschen pro Jahr infolge von Krankenhausinfektionen, die durch Hygienemaßnahmen hätten verhindert werden können. Und obwohl das Robert-Koch-Institut 2012 warnte, es sei nicht die Frage, ob eine Pandemie kommen werde, sondern wann, richtete sich die Gesundheitspolitik weiterhin nach falsch verstandener Effizienz aus, anstatt ein tragfähiges Gesundheitssystem zu schaffen.

In der Krise tritt das Versagen des Markts im Gesundheitswesen deutlicher zutage. Jetzt rufen selbst Wirtschaftsliberale nach massiven Eingriffen des Staats – und der Staat hilft mit Milliarden. Das war auch in der Finanzkrise so. Zuerst wurden lange Zeit die Gewinne der Spekulation privatisiert. Dann rutschten die Banken in die Krise, der Staat griff massiv ein und rettete. Die Verluste trug die Allgemeinheit ­ und schlitterte so in die Wirtschafts- und Währungskrise. Jede Familie in Deutschland zahlte für die Finanzkrise 3000 Euro an Steuern, in vielen Ländern stieg die Ungleichheit, und strenge Sparpolitik verursachte großes Leid.

Was sagt der Umgang mit der Finanzkrise über unsere Gesellschaft aus? Überspitzt formuliert: Mach mal, Markt. Wir retten Banken und Unternehmen, und dann geht es weiter wie bisher. Dabei bereitet nicht selten die eine Krise der nächsten den Weg. Eine Folge der Finanzkrise waren die Sparpolitik und der Rückbau der öffentlichen Daseinsvorsorge – der Umbau des Gesundheitssystems führte zu reduzierten Bettenzahlen, heute etwa in Italien, Spanien und Griechenland.

Und wo stehen wir heute? Gerade hatten die Jungen die Gesellschaft wachgerüttelt – mit Schulstreiks und Demonstrationen. Dann kam Corona. Heute fordert der CDU-Wirtschaftsrat, die Klimaziele der EU zu kippen. Trump lockert die Umweltauflagen, und die Weltklimakonferenz wurde verschoben.

Wirtschaftliche Zahlen wie das Bruttoinlandsprodukt können nach der Corona-Krise aussehen wie vorher: Laut Prognose schrumpft die Wirtschaft jetzt um vier Prozent und wächst im Jahr darauf um sechs Prozent. Den Zahlen sieht man nichts an. Den Menschen schon. Sie sind vereinsamt oder gestorben. Zudem überfordert häusliche Isolation viele, etwa durch die Unvereinbarkeit von Homeoffice und Homeschooling oder finanziellen Druck. Häusliche Gewalt nimmt zu und kann Kinderseelen schwere Wunden zufügen.

Auch die Erdatmosphäre vergisst nichts. Sind die entscheidenden Kipppunkte beim Klima erreicht, gibt es kein Zurück. Die jetzt verringerten Emissionen werden mit dem aufholenden Wirtschaftswachstum wieder explodieren. Zukunftsfähige Politik ist daher kein Luxus, sondern lebensnotwendig. Es geht darum, unser gemeinsames Haus zu schützen, anstatt es nach dem Feuer immer wieder neu aufzubauen. Eine reiche Gesellschaft wie unsere kann es sich nicht leisten die planetaren Grenzen zu missachten und auf eine Weise zu wirtschaften, welche die ökologische Basis untergräbt und das soziale Fundament erodieren lässt: Menschlichkeit, Zusammenhalt, aber auch die vielen Arten von Arbeit wie die Sorge für Kinder, Kranke und Alte oder politisches Engagement.

Auch in Zukunft ist in einer globalisierten Welt immer wieder mit Pandemien und anderen Krisen zu rechnen. Wenn die Sorge für alle im Vordergrund stehen soll, dann gilt hier: Systemrelevant ist, was zum Leben notwendig ist. Existenzielle, störanfällige Bereiche, welche zur Sicherstellung der grundlegenden Bedürfnisse und Fähigkeiten notwendig sind, müssen daher stabil und sicher gestaltet werden. Dabei gilt es, vorsichtig abzuwägen, in welchem Fall der Markt, der Staat andere, kooperativere Formen wie Genossenschaften, Bürgerprojekte oder Formen solidarischer Ökonomie sinnvolle Alternativen sind. Das gilt es für die verschiedenen Bereiche neu zu diskutieren, etwa für Gesundheit, Wasser, Energie, Wohnen, Ernährung und Mobilität.

So dramatisch die Pandemie auch wütet – wahrscheinlich ist, dass Corona im Vergleich zur Klimakatastrophe historisch als Zwergkrise gesehen werden wird. Doch wie würde eine Politik aussehen, welche die Klimakatastrophe mitdenkt? Einige Beispiele:

– Eine krisenfeste Wirtschaft ist unabhängig vom Wirtschaftswachstum. Daher ist die Förderung von Unternehmens- und Organisationsformen sinnvoll, die auch in Krisenzeiten funktionieren, weil sie vom Vermehrungszwang unabhängig sind – Beispiele hierfür sind Genossenschaften. Darüber hinaus gilt es, die sozialen Sicherungssysteme und das Finanzsystem wachstumsunabhängig zu gestalten.

– Die gegenwärtigen milliardenhohen Kredite und Zuschüsse sollten in Richtung Nachhaltigkeit konditionalisiert werden. Im Zentrum von Investitionen könnten Nachhaltigkeitsforschung, Öffentlicher Nahverkehr sowie erneuerbare Energien stehen.

– Corona zeigt, dass Produktion, Reisen, Nahrungsmittel und Konsumgüter auch regional funktionieren. Das bleibt aus ökologischer Sicht langfristig sinnvoll. Zeit also für einen Paradigmenwechsel: Mehr Welthandel ist nicht immer sinnvoll. Ökologische Kosten müssen eingepreist und gleichzeitig Handelsregeln endlich gerecht gestaltet werden, sodass Deutschland seinen Exportstatus nicht auf Kosten des Globalen Südens aufrechterhält.

- Durch den Produktivitätsfortschritt ist heute nur noch ein Bruchteil der Arbeit notwendig, um gleichviel herzustellen. Allerdings sind Einkommen und Vermögen so ungleich verteilt, dass Menschen teils auch von mehreren Stellen in Leiharbeit nicht leben können. Corona-bedingte Kurzarbeit kann den Einstieg in eine generelle Arbeitszeitreduzierung ermöglichen, die frei gewordene Zeit könnte für Sorgearbeit wie für demokratisches und ehrenamtliches Engagement genutzt werden. Um soziale Gerechtigkeit zu schaffen, müsste die Arbeitszeitverkürzung allerdings mit einer deutlichen Umverteilung von oben nach unten flankiert werden – diese ist ohnehin notwendig, da zunehmende Ökosteuern ansonsten Ärmere überproportional belasten.

Krisen sind auch Phasen der Neuausrichtung. Hier liegt die Chance zur Besinnung auf das Wesentliche. Die Zufriedenheit der Menschen wächst in Industrieländern nicht mehr mit steigendem Bruttoinlandsprodukt. Die Weltreligionen wissen es, und auch die Glücksforschung hat erkannt, dass das Ziel von menschlicher Entwicklung nicht ein immer Mehr an Materiellem ist. Nicht materielle Werte dürfen nicht weiterem Wirtschaftswachstum geopfert werden. Heute gilt es, eine resiliente, zukunftsfähige Form des Wirtschaftens zu schaffen, welche die sozialen, demokratischen und ökologischen Fundamente unserer Gesellschaft fördert und lebendig macht. So können in der Krise gleichzeitig „die Alten“ geschützt und für „die Jungen“, die nachfolgenden Generationen, sowie die Welt als Ganzes Sorge getragen werden.

Katharina Hirschbrunn ist Volkswirtin und Studienleiterin der Evangelischen Akademie Tutzing. Der Text erschien im April im Akademie-Blog „Rotunde“.

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