Die Dokumentation: Es ist Liebe in unserem Land

Von der Kraft der biblischen Geschichten in Zeiten der Corona-Krise • von Heinrich Bedford-Strohm

Dankbarkeit ringt mit tiefer Sorge: Heinrich Bedford-Strohm. Foto: epd

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen!

„… unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat.“ Wo von Sieg und von Überwinden die Rede ist, da zeigen sich die Spuren eines Kampfs. Ja, diesen Kampf gibt es. Und wir sind mittendrin. Seit vielen Wochen prägt er unser Leben wie kaum etwas in den letzten Jahren zuvor. So unterschiedlich unser aller Lebenssituationen sind, der Kampf gegen die Corona-Pandemie hat unser Leben verändert, egal, wo auf der Welt wir leben.

„Man muss lange suchen, um ein Land zu finden, in dem man diesen Sturm lieber überstehen möchte als in Deutschland.“ So hat kürzlich ein Journalist geschrieben. Und man kann ihm nur recht geben. Und dennoch ringt die Dankbarkeit dafür in uns mit der tiefen Sorge, wie denn das alles weitergehen soll. Ob es je wieder so werden wird, wie wir es kannten und liebten.

Da ist die Erleichterung über die Lockerungen, die die Politik beschlossen hat, über das bisschen mehr an sozialem Leben, das wieder möglich ist. Aber da ist auch das andere: die Befürchtung, dass die Infiziertenzahlen wieder ansteigen könnten oder die Sorge um die eigene Gesundheit oder um die der alt gewordenen Eltern.

Und dann ist da der MNS. Mund-Nasen-Schutz heißen die Tücher, die wir uns aufs Gesicht binden. Weil das Wort „Gesichtsmasken“ so brutal klingt. Obwohl es ehrlicher ist. Ich jedenfalls kann mich einfach nicht daran gewöhnen, dass wir einander nach dem Berührungsverbot nun nicht einmal mehr sehen können. Keinen Gesichtsausdruck, keinen neugierigen Blick, kein Lächeln. Und auch bei den Gottesdiensten, die jetzt wieder in unseren Kirchen möglich sind, ist es ein Ringen: Wir freuen uns, dass wir wieder in der sichtbaren Gemeinschaft feiern können. Aber es ist nicht so wie vorher. Auch hier überall hygienische Vorsicht und Abstände, die es schwermachen, die Gemeinschaft, auf die wir uns doch so gefreut haben, auch tatsächlich zu erfahren.

Ja, es ist ein Ringen, es ist ein Kampf, der sich da gerade in unseren Seelen abspielt. Es ist ein Ringen um die richtigen Wege, aber auch ein Ringen um Zuversicht. Dabei hilft mir in diesen Tagen die Natur. Wenn ich auf die grünen Wiesen schaue und die vielen gelben Löwenzahntupfer darin sehe, wenn ich auf die Obstbäume blicke, aus denen überall die Blüten brechen, dann gibt mir dieses Frühlingserwachen eine sinnliche Ahnung davon, wie es ist, wenn aus der Kälte Wärme wird, aus der Kargheit Fülle, aus der Tristesse Lebensfreude. Aus den Tränen der Jubel, so wie ihn der Name des heutigen Sonntags im Kirchenjahr zum Ausdruck bringt: Jubilate! Jubelt!

Aber das Frühlingserwachen der Natur ist vergänglich. Nicht vergänglich ist das, was der 1. Johannesbrief uns vor Augen malt: Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat. Welch eine Zusage! „… unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat.“ Christus hat den Tod überwunden, der Ostersieg ist schon Realität, und wir haben im Glauben daran Anteil! Diese Botschaft ist tatsächlich Grund zum Jubeln! Und zwar auch dann, wenn uns die Welt, wie Johannes all das nennt, was uns zu schaffen macht, immer noch kräftig zusetzen kann.

Aber wie kann unsere Seele es verstehen? Was kann uns den Weg dazu öffnen, dass wir aus dieser wunderbaren Wahrheit unseres Glaubens wirklich die innere Kraft schöpfen, die wir jetzt brauchen? Unseren Blick neu auf Christus richten, uns von ihm inspirieren lassen, der Osterbotschaft in uns Raum geben, dieser Botschaft, dass Christus der Gekreuzigte auferstanden ist, dass sein Geist lebendig ist und unter uns wirkt – das ist das wunderbare Geheimnis, aus dem wir neu geboren werden, aus Gott geboren werden.

Aber wie geht das? Wie finde ich diesen Zugang zu Christus, der mir Kraft gibt, der mir Orientierung gibt, der stärker ist als alles, was mich runterziehen will? Für mich sind es die Geschichten, die ich über Jesus in der Bibel lese, die mir diesen Zugang eröffnen. Es ist die radikale Liebe, die mir in diesen Geschichten begegnet. Wo andere richten und verurteilen, nimmt Jesus Menschen an wie die Ehebrecherin, die sie steinigen wollen. Wo andere die Armen ignorieren, sieht Jesus sie wie den Bettler Lazarus in Abrahams Schoß sitzen. Wo andere auf ihrem Recht beharren, stellt Jesus die Barmherzigkeit an die erste Stelle wie beim verlorenen Sohn. Wo andere am Leid des Nächsten vorübergehen, gibt Jesus uns das Beispiel des barmherzigen Samariters.

Es ist diese Liebe, die mein Herz erreicht, wenn ich an Jesus denke und die meine Seele neu macht, frei macht, stark macht. Es ist die Beziehung zu Gott, die ich spüre, wenn ich die Geschichten über Jesus lese und höre. Gott ist ein glühender Backofen voller Liebe – hat Martin Luther gesagt.

Wir brauchen sie, diese Liebe, gerade jetzt. „Du sollst den Herrn deinen Gott lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt und deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ So hat Jesus die untrennbare Verbindung von Gottesliebe, Selbstliebe und Nächstenliebe in ein Gebot gefasst, das uns Orientierung gibt. Und wann wäre Nächstenliebe wichtiger als gerade jetzt, wo es darum geht, die Folgen der Corona-Krise zu bewältigen? Wann wäre es wichtiger, sich in die anderen, die von der Krise ganz besonders betroffen sind, einzufühlen?

Wie würde ich mich fühlen, wenn einer meiner liebsten Menschen an Covid-19 erkrankt wäre? Oder wenn ein geliebter Mensch im Seniorenheim wohnt und ich ihn nicht besuchen kann? Und auf der anderen Seite: Wie würde ich mich fühlen, wenn mein Geschäft, das ich mir in Jahrzehnten aufgebaut habe, jetzt wegen dieses Virus vor dem Bankrott stünde? Was würde ich mir erhoffen, wenn ich ohne irgendein Zutun jetzt meinen Arbeitsplatz verloren hätte und vor dem Nichts stünde? Wie würde es mir gehen, wenn ich als Künstler mein Publikum zu berühren gewohnt bin und jetzt alles abgesagt werden muss?

Manche trifft die materielle Existenznot schwer, andere haben materielle Sicherheit. Wir können jetzt zusammen helfen. Wir können einander beistehen, in äußeren Dingen, aber auch innerlich. Wird so viel Liebe in unserem Land sein, dass wir das schaffen? Ich sehe viele ermutigende Zeichen dafür. In München gibt es eine Internetseite, (www.helfer-in-der-krise.de), über die Menschen mithelfen können, die Geschäfte zu retten, in denen sie immer gerne eingekauft haben, indem sie eine Monatsmiete übernehmen oder einen Teil davon. Gegründet hat sie eine Lehrerin, die Geld für ihren Osterurlaub gespart hatte, der nun aber nicht mehr möglich war. „Ich habe ein sicheres Gehalt. Und das Geld für den Urlaub hätte ich sowieso ausgegeben“, sagt sie. Also hat sie den Telefonhörer in die Hand genommen und beim Buchladen angerufen. Und angeboten, eine Monatsmiete zu übernehmen. Wie dankbar die Dame von der Buchhandlung war, kann man sich vorstellen.

Nun zieht die Idee durch die Internetseite Kreise. Die Besitzerin meines Blumenladens hat mir erzählt, dass sie auch so ein Angebot bekommen hat und wie sehr sie sich darüber gefreut hat. Und auch über den Horizont unseres eigenen Landes hinaus sind Menschen zur Hilfe bereit. Sie spenden etwa für „Brot für die Welt“, Diakonie-Katastrophenhilfe oder andere Hilfsorganisationen, um weltweite Solidarität mit den Ärmsten zu zeigen.

Ja, es ist viel Liebe in unserem Land. Und viele machen jetzt genau die Erfahrung mit dem Nächstenliebegebot, die der 1. Johannesbrief in seinen alten Worten zum Ausdruck bringt: „Das ist die Liebe zu Gott, dass wir seine Gebote halten; und seine Gebote sind nicht schwer.“ Viele Menschen helfen gerne. Und sie machen die Erfahrung, dass sie selbst glücklicher sind, wenn sie mit ihren eigenen Ressourcen anderen beistehen können.

Ist es nicht tatsächlich für uns alle eine schöne Aussicht, wenn wir wissen: In unserer Gesellschaft fällt niemand ins Nichts? Die Menschen stehen füreinander ein. Denen, die in Not sind, wird geholfen. Die, die weiterhin geduldig und umsichtig miteinander umgehen, sorgen gemeinsam dafür, dass sich das Virus nicht weiter ausbreiten kann. Es ist gut, wenn die Politik möglichst zielgenaue Rettungsschirme entwickelt und dabei besonders die Schwächsten im Blick hat. Und es ist gut, wenn die Menschen in unserem Land je nach ihren Möglichkeiten auch im Alltag zur Solidarität bereit sind. Einer Solidarität, die auch darin bestehen kann, dass ich auch noch länger bereit bin, auf bestimmte persönliche Rechte zu verzichten, um andere zu schützen.

Wo wir uns jeden Tag klarmachen, wie wenig selbstverständlich das ist, was wir haben und sind, wie sehr alles Geschenk Gottes ist, da leben wir aus der Dankbarkeit. Da sind wir bereit, die eigene erfahrene Liebe an andere weiterzugeben. Und machen dabei am Ende sogar die Erfahrung, dass diese Liebe durch das Teilen nicht kleiner wird, sondern größer.

Professor Heinrich Bedford-Strohm ist Vorsitzender des Rats der EKD. Diese Predigt hielt er beim ZDF-Gottesdienst am 3. Mai in der Saalkirche Ingelheim.

Meistgelesene Artikel