Die Dokumentation: Der Traum von christlicher Einheit

Die Elsässerin Suzanne de Dietrich führte ein Leben für die Bibel und die Ökumene

Bis ins hohe Alter in der Ökumene aktiv: Suzanne de Dietrich. Foto: pv

Suzanne de Dietrich wurde am 29. Januar 1891 in Bad Niederbronn geboren. Früh verlor sie ihre Mutter Anne von Türcke (1848 bis 1900) und sechs Jahre später ihren Vater Charles de Dietrich (1841 bis 1906). Sie gehörte zur alteingesessenen elsässischen Industriellenfamilie de Dietrich. Nach dem Tod ihrer Eltern schickte ihr Vormund Eugène de Dietrich Suzanne nach Lausanne. Dort studierte sie nach dem Schulabschluss Ingenieurwissenschaften. Als eine der ersten Frauen erwarb sie im Sommer 1913 in Lausanne ihr Diplom als Elektroingenieurin.

Die Medizinstudentin Renée Warnery machte sie 1909 mit der „Association chrétienne d’étudiants“ bekannt. Sie nahm in diesem Jahr an einer Freizeit der christlichen Studentenbewegung teil, der noch viele folgen sollten. In dieser Zeit begann sie sich mit der Bibel auseinanderzusetzen. Ihr Straßburger Konfirmator Jules Breitenstein (1873 bis 1936), inzwischen Professor für Neues Testament in Genf, half ihr, sich in die exegetische Literatur einzuarbeiten. Statt wie von ihrem Vormund geplant im Unternehmen de Dietrich mitzuarbeiten, entschied sich Suzanne für die Arbeit unter Studenten in Paris.

Ihr Lebensthema wurde Suzanne de Dietrich allmählich bewusst. Mitglieder des Christlichen Studenten-Weltbunds und Vertreter eines sozialen Christentums entdeckten nach dem Ersten Weltkrieg die menschliche Solidarität als ihre neue Aufgabe. Ihr Traum war die internationale Bruderschaft und christliche Einheit. Von Anfang an hatten sie die ganze Welt, die Ökumene, im Blick.

Auf zahlreichen Reisen, die die leicht behinderte Frau bis ins hohe Alter nach Asien, Afrika, Lateinamerika, Nordamerika und in zahlreiche europäische Länder führten, weitete sie ihren Horizont. Bei Seminaren mit Menschen unterschiedlicher kirchlicher und nationaler Herkunft setzte sie sich bewusst den Schwierigkeiten und Schmerzen einer Arbeit aus, die überkommene Grenzen und ererbte Prägungen überwinden will. Im Herrenhaus der Familie de Dietrich in Mutterhausen bei Bitsch fand 1932 eines der ersten ökumenischen Treffen in Frankreich statt: Über 30 orthodoxe, anglikanische, lutherische, reformierte und katholische Theologen nahmen teil. Weil den katholischen Theologen die Teilnahme verboten war, sind weder eine Teilnehmerliste noch Protokolle erhalten.

Für Suzanne de Dietrich war die gemeinsame Besinnung auf die Bibel der Weg, ihren ökumenischen Traum allen Gewalten zum Trotz zu leben. Sie bewahrte sich zeitlebens ihren Zugang zur Bibel und lebte mit ihr. So entstand ihr Buch „Die Wiederentdeckung der Bibel“ von 1948. In dieses Buch floss vieles ein, was sie während ihrer Zeit als Mitarbeiterin des Christlichen Studenten-Weltbunds in Genf von 1935 bis 1946 selbst erarbeitet und im Austausch mit anderen Teilnehmern bei Seminaren und ökumenischen Treffen gelernt hatte. Als das Buch in deutscher Sprache erschien, war sie bereits ans Ökumenische Institut in Bossey gewechselt, dem sie von 1946 bis 1954 angehörte.

Suzanne de Dietrich mied stets den Rückzug in den Elfenbeinturm der theologischen Wissenschaft. Ihr ging es um die Auseinandersetzung zwischen biblischer Botschaft und dem beruflichen sowie persönlichen Alltag. Geprägt durch viele ökumenische Begegnungen, hörte sie bewusst auf unterschiedliche theologische Stimmen und nahm die Ergebnisse der theologischen Diskussion auf.

In ihrer praktischen Arbeit ging sie vom gedruckt vorliegenden Bibeltext aus. Auch andere Formen der Bibelarbeit hielt sie für wichtig. Sie verweist auf das Laienspiel und Sprechchöre wie etwa Manfred Hausmanns Worpsweder Hirtenspiel und Otto Bruders Evangelienspiele. Sie wollte die biblische Botschaft aus dem Gefängnis der Schriftlichkeit, des toten Buchstabens, befreien. Dabei spielten das gesprochene und gehörte, das sichtbare, das meditierte Wort, das Wort der Liturgie, das Wort in prophetischem Handeln und das Wort im Alltag eine wichtige Rolle.

Suzanne de Dietrich war bei der Gründung der „Cimade“, des Hilfswerks für evakuierte Protestanten aus dem Elsass und Lothringen, im Oktober 1939 beteiligt. Seit dem militärischen Zusammenbruch Frankreichs im Juni 1940 kümmerte sich die „Cimade“ um politisch verfolgte Flüchtlinge aus den von Deutschland besetzten Gebieten und um Opfer des rassischen Antisemitismus des NS-Staats.

Sie gehörte zu einer kleinen Gruppe, die 1941 in einem Freizeitheim in Saint-Étienne-du-Grès die „Thèses de Pomeyrol“ abfasste. Angesichts des Leids, das über Juden und Judenchristen hereingebrochen war, verliehen sie im Anschluss an das Barmer Bekenntnis der Kirche wieder ihre Sprache. Die „Thèses de Pomeyrol“ wurden für ein neues Verhältnis zwischen Protestanten und Juden wegweisend. Sie grenzten sich klar vom nationalsozialistischen Antisemitismus und antisemitischen Strömungen in Vichy-Frankreich ab. Angesichts der katastrophalen Verhältnisse in den Internierungslagern im unbesetzten Frankreich und drohender Deportationen in den Osten erklärten sie die Rettung von Juden zu einer christlichen Aufgabe.

Aus ihren Erfahrungen im Widerstand gegen die NS-Ideologie zog sie ihre Schlüsse und formulierte unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg eine Zukunftsaufgabe: „Das tiefe Verständnis der Einheit beider Testamente, wie es die Urkirche und die Reformatoren besaßen, muß wieder erwachen, ohne daß man dabei in eine gewagte ‚Typologie‘ oder in die allegorische Deutung verfällt, an der die Auslegungen in den ­ersten Jahrhunderten der Kirchengeschichte gescheitert waren. So öffnet sich gegenwärtig der Auslegung des Alten Testaments ein riesiges Arbeitsfeld. Auch hier hat die biblische Erneuerung der Bekennenden Kirche in Deutschland und die Arbeit der Schweizer Theologen den Weg gebahnt, während die neue französische und englische Auslegung noch in den Anfängen steckt.“

Unter dem Stichwort der Freiheit unternahm Suzanne de Dietrich einen Durchgang durch die Bibel. Im Rückgriff auf Fjodor Michailowitsch Dostojewski beschrieb sie den Menschen ohne Gott als ein Wesen, das sich selbst zum Götzen macht (Hitler, Stalin). Sie lehnte den Begriff einer Freiheit als Selbstwert ab. Man wird von etwas befreit, um für etwas frei zu sein. Gleichzeitig band sie die äußere, politische und materielle Freiheit an die innere Freiheit. Andernfalls drohe eine neue Sklaverei. Die biblische Botschaft verkündet nicht nur die herrliche Freiheit der Kinder Gottes, in ihrer Mitte begegnet man dem einzig freien Menschen, der je gelebt hat, Jesus von Nazareth.

Das bedeutete für das Verhältnis der Kirche zum Staat, dass sie mit ihrem Leben bezeugt, was wahre Macht, Freiheit und Brüderlichkeit sind. Sie hat die Aufgabe, diese Begriffe mit Leben zu füllen. Sie ist Zeugin dieser herrlichen Freiheit der Kinder Gottes, die alle „in sehnsüchtigem Verlangen“ das Offenbarwerden der Kinder Gottes erwarten. Sie weiß um irdische Vorläufigkeit und die Vollkommenheit im Reich Gottes. Doch jeder Christ, jede Gemeinde ist dafür ein Zeichen. Denn „wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit“.

Auf den Weltkonferenzen des Christlichen Studenten-Weltbunds in Bièvres 1937 und in Amsterdam 1939 wurde der Tagesablauf bewusst neu gestaltet. Morgens wurden Bibelarbeiten gehalten, und nachmittags wurde über drängende Zeitfragen diskutiert. Dabei entdeckten Teilnehmerinnen und Teilnehmer neu die Bedeutung der Bibel.

Ihre Erfahrungen mit der Bibel in einer Vielfalt unterschiedlicher Beziehungen sind in ihr Buch „Die Wiederentdeckung der Bibel“ eingeflossen. Es klingt in einer ökumenischen Vision aus. „Ja noch ist ein weiter Weg bis zu dem Tag, da alle Christen gemeinsam das Brot brechen: dies wird dann wohl die letzte Vereinigung sein. Wird Gott sie uns hienieden gewähren? Das weiß er allein. Eines aber gewährt er uns schon heute: gemeinsam das Brot seines Wortes zu brechen und zu essen. Laßt uns diese Gnade ernst nehmen, denn alles weitere hängt von ihr ab: die Bibel ist das königliche Tor, das sich vor allen Christen öffnet.“

Als ihr Leben in Paris zu mühsam wurde, zog sie im Februar 1978 in das Altersheim der Straßburger Diakonissen Emmaus ein. Das befreundete US-amerikanische Pfarrerehepaar Ken und Marion Baker, United Church of Christ, hatte sie dazu überredet. Gegen den Widerstand der Straßburger Diakonissen und besorgter Freunde verwirklichte die bereits gebrechliche alte Dame einen letzten Wunsch. Im November 1980 flog sie von Straßburg nach Rom, um dort Ken und Marion Baker zu besuchen.

Wenige Wochen später endete ihre Pilgerschaft für Bibel und Ökumene am 24. Januar 1981 in Straßburg. Wie andere Familienmitglieder wurde sie auf dem Friedhof des Vogesendorfs Windstein im Unterelsass beerdigt.

Max Krumbach ist Pfarrer i. R. und lebt in Zweibrücken. Der Text erschien im „Pfälzischen Pfarrerblatt“ 5/2020.

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