Den Glauben entdecken und verantworten

Was der Existenz des Menschen Bestand und Festigkeit gibt – Kirche als Ort der Würde Gottes geliebter Geschöpfe • von Christian Schad

Im Flügelaltar der Kirchenburg von Prejmer (Tartlau) in Siebenbürgen in Rumänien: Die drei Frauen stehen am Ostermorgen vor dem Engel am leeren Grab. Foto: epd

„Ach, wenn ich doch glauben könnte!“ – Dieser Satz fällt zuweilen in Gesprächen. Fast wie ein Stoßseufzer mutet das an. Ein Seufzer über die verlorene Welt des Glaubens, von der man denkt: Es wäre gut, man hätte sie wieder. Hier kommt zum Vorschein, dass der Glaube eine Hilfe zum Leben ist.

Der Glaube, von dem die Bibel spricht, hat es zu tun mit dem, was der Existenz eines Menschen Bestand und Festigkeit gibt, allen Anfechtungen und Anfeindungen zum Trotz. Angebahnt wird er dadurch, dass Menschen aufmerksam werden auf sich. Die Umstände mögen höchst verschieden sein: Auf einmal stockt der Lebensstrom, dem man sich ansonsten bedenkenlos überlässt. Irgendetwas im Leben, irgendein Ereignis, macht betroffen: ein Gespräch, ein Satz, der hängen bleibt.

So infrage gestellt, aufmerksam geworden auf sich, wird zugleich das Verlangen wach, vor sich und vor anderen wahrhaftig zu sein, wahr zu sein, sich nicht selbst zu betrügen. Wahrhaftigkeit ist der erste Akt des Glaubens.

Zum Aufmerksam-werden und zum Verlangen, wahrhaftig zu sein, muss noch ein Weiteres hinzukommen, damit Glaube an Gott, damit das Gewisswerden über die Wahrheit der Christusbotschaft, sich einstellen kann: Menschen müssen uns von Gott und dem Glauben erzählt haben. Mir muss aufgefallen sein, dass diese mit mehr und Tieferem im Leben rechnen als nur mit dem, was feststellbar vor Augen liegt. Mir muss die Gottesgeschichte konkret zugesprochen worden sein, um mich in ihr zu orientieren und zu gründen. Der Glaube kommt aus dem Hören (Römer 10, 17).

Er ereignet sich bei Menschen. Er liegt nicht in der Reichweite des Machens. Er ist zwar mein Tun, aber dennoch nicht mein Werk. Glaube ist nicht verfügbar, nie Habe, nie Besitz, sondern, wenn’s gut geht, wird er mir zugespielt – je und je neu. Die Anfechtung, Zeiten der Dunkelheit und des Wartens, sind geradezu Kennzeichen des Glaubens; im Unterschied zu Ideologien, die sich für unanfechtbar halten. Glaube als Vertrauen kann darum auch niemals erzwungen, niemals befohlen werden. Mit Überwältigung hat er nichts zu tun. Er ist gewährter, geschenkter Glaube. Er kommt zu den Menschen (Galater 3, 25).

Wie kommt der christliche Glaube zu uns? Indem mir Menschen Zugang verschaffen zu dem Wort, in dem sich Gottes unbedingte Bejahung zu uns und aller Kreatur ausgesprochen hat. Wo geschieht das? In der Kirche, diesem irdischen Raum, in dem die Texte der Heiligen Schrift und in ihnen das Evangelium immer wieder neu zur Sprache kommen.

Die biblischen Texte, ich verstehe sie als geschichtliche Zeugnisse, die um das Ereignis der Menschwerdung Gottes herum geschrieben sind. In ihre Zusagen dürfen wir einkehren – mitsamt der Vielfalt und auch Widersprüchlichkeit eigener Welt- und Lebenserfahrung. Wir dürfen uns der befreienden und widerständigen Kraft ihrer einprägsamen Bilder überlassen. Und indem sie an uns wirken, eröffnen sich Möglichkeiten, neue Dimensionen und Sichtweisen, die uns von uns her verschlossen bleiben. Die Kirche als Hör-Raum, als Ort der Inspiration, in dem das biblische Wort aus- und fortgeführt, in unser Leben hinein übersetzt wird.

Die Pointe dieses Übersetzungsvorgangs besteht freilich darin, dass nicht nur die Texte der Heiligen Schrift ins Hier und Heute übersetzt werden, sondern dass umgekehrt wir übersetzt werden, dass nicht nur wir die Bibel auslegen, sondern dass sie uns auslegt, dass ihre Wahrheit die unsrige wird, um uns selbst in die neue Situation zu über-
setzen, die die Texte ansagen. Ziel dieser Übersetzung ist, dass wir, von uns selbst abgelenkt und von unserer Vergangenheit heilsam entlastet, versammelt werden vor Gott: als der uns unbedingt wahr und frei machenden Instanz.

Diese Neubestimmung menschlicher Existenz heißt: Glaube. Hier lebt eine neue Verteilung von Licht und Schatten, von Wichtigem und Unwichtigem, von Vergänglichem und Bleibendem. Fortgehalten von aller Hybris, werden wir uns im Glauben zurückgegeben an das einfache Geheimnis, endliche, fragmentarische Geschöpfe zu sein. Wir gewinnen wieder das menschliche Maß, das uns in unserer bleibenden Bedürftigkeit, durch Gott immer wieder erneuert zu werden, mit allen Geschöpfen verbindet.

Die christliche Tradition hat das Entstehen dieses Glaubens, dieses Vertrauens als das Werk des Heiligen Geistes bezeichnet, also jener Kraft, die in den Worten Jesu wohnt und uns von innen her überzeugt. Dass das gewaltlose Wort des Evangeliums einleuchtet, dass es sich behauptet in der Flut der Wörter und Bilder, denen wir täglich ausgeliefert sind, das bewirkt Gott selbst.

Luther sagt es so: „Ich glaube, dass ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesus Christus, meinen Herrn, glauben oder zu ihm kommen kann; sondern der Heilige Geist hat mich durch das Evangelium berufen, mit seinen Gaben erleuchtet, im rechten Glauben geheiligt und erhalten, gleichwie er die ganze Christenheit auf Erden beruft, sammelt, erleuchtet, heiligt und bei Jesus Christus erhält im rechten, einigen Glauben“ (Kleiner Katechismus, Erklärung zum 3. Artikel).

Im Kern ist der Glaube eine Entdeckung: dass ich immer schon davon lebe, dass Sinnvolles da, Gutes mir schon zuteilgeworden ist, längst bevor ich zu denken und längst bevor ich Gutes und Sinnvolles zu tun vermochte. Glaube ist die Gewissheit, unendlich bejaht zu sein und dies zugleich für das Leben aller Menschen zu glauben und zu erhoffen.

Das aber kann ich mir nicht selber sagen. „Der Christus im Mund des Bruders ist gewisser, als der Christus im eigenen Herzen“, sagt Dietrich Bonhoeffer. Das Vertrauen auf die Güte des Lebens setzt darum Vorbilder voraus. Ich brauche die Sprache meiner Geschwister, der lebenden und der toten, deren Worte und Lieder, deren Gebete. Ich leihe sie mir aus, damit die Hoffnungsgeschichten an mir arbeiten können, an meinen Wünschen, meinem Gewissen, an meinem Urteil, damit sie uns bilden und ihre heilende Kraft wirksam entfalten können.

Auf Dauer gibt es Glauben also nicht ohne Kirche. Neueste Studien zeigen: Individueller Glaube jenseits der Institution Kirche ist – anders als viele lange Zeit dachten – nicht wirklich nachhaltig. Fakt ist: Wenn die Leute nichts mehr mit der Kirche zu tun haben, geht auch die individuelle Religiosität zurück. Persönliche Frömmigkeit ist auf beständige Erneuerung durch die Gemeinschaft der Glaubenden, also die Kirche, angewiesen. Kirche ist Verantwortungsgemeinschaft zur Weitergabe und zur Erneuerung des Glaubens.

Erfahren wird sie im Wesentlichen als „Vor-Ort-Kirche“. Dass wir Menschen nachbarschaftlich begleiten, Kinder und Erwachsene taufen, Jugendlichen Orientierung geben, dass wir Einsame und Kranke besuchen, unsere Toten beerdigen und allen die Auferweckung des Gekreuzigten als ein Wort ewigen, erfüllten Lebens weitersagen, diese elementaren Lebensvorgänge sind es, die unserer Kirche ihr Gesicht geben. Die Parochie, die Kirchengemeinde, sie ist darum alles andere als ein Auslauf­modell! Sie ist die Basisgestalt, die Grundform evangelischen Christseins, „Pflanzstätte(n) evangelischen Glaubens und Lebens“, wie unsere Kirchenverfassung sagt, im Miteinander der Generationen und der unterschiedlichen Art der Beteiligung. Kirche also verstanden als Ort des geteilten Mutes und des geteilten Zweifels; ein Raum, in dem Menschen mit neuen Augen angesehen werden. Hier soll ihnen jene Würde zugestanden sein, die Jesus den Menschen zugestand, die Würde eines von Gott geliebten Geschöpfes.

Christian Schad ist Präsident der Evangelischen Kirche der Pfalz.

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