Vorurteile haben nicht nur die anderen

von Klaus Koch

Klaus Koch

Nein, Vorurteile pflegen wir in unserer Familie nicht. Zumindest versuchen wir es. Also war es selbstverständlich, die schweren Einkaufstüten abzustellen, als ein offensichtlich migrationshintergründiger junger Mann mit dem Auto heranbrauste, anhielt und eine Frage stellte. Wo, wollte er wissen, denn in Mußbach eine Telefonzelle sei. Er habe sein Handy vergessen, sei mit seiner Freundin verabredet und wolle nun nachfragen, wo diese bleibe. Sehr freundlich fragte er. Einfach nett. Nach längerem Nachdenken vor dem geöffneten Autofenster kam sogar die Erinnerung an ein stationäres Telefon ganz in der Nähe zurück. Alles schien gut.

Zurück im Haus stellte die Frau desselben fest: Ihr Armband ist weg. Vorhin war es noch da. Ganz sicher. Das kann doch nur dieser junge Flüchtling gewesen sein. Also sowas! Irgendwie ist er einem gleich etwas merkwürdig vorgekommen. Und ein junger Mensch, der sein Handy vergisst …? Gibt es das heutzutage überhaupt noch? Das kann nur ein Trick gewesen sein. Sollte man die Polizei einschalten? Doch was bringt das. Die Autonummer hat sich niemand gemerkt, nicht einmal die Marke. Und die Beschreibung? Irgendwie dunkel, ausländisch halt. Das nächste Mal passen wir ganz sicher besser auf, wenn uns so einer anspricht. Empörend, dass gerade uns das passiert, wo wir doch immer Partei ergreifen für die Geflüchteten und Verfolgten dieser Welt.

Am nächsten Tag erreicht die vermeintlich Bestohlene im Geschäft eine Rundmail. Ein Armband sei auf den weiten Fluren der Redaktion gefunden worden. Es könne abgeholt werden. Leicht zerknirscht müssen wir einräumen: Die Sache hatte einen doppelten Erkenntnisgewinn. Wir wissen jetzt, wo in unserem Ort ein öffentliches Telefon steht. Und wir wissen: Das mit den Vorurteilen sind nicht nur die anderen.

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