Verfassung schützt den Kapitalismus nicht

von Klaus Koch

Klaus Koch

Ein Gespenst geht um. Nicht gerade in Europa, auch nicht in Deutschland, aber immerhin in Berlin. In der Bundeshauptstadt sammelt eine Initiative angesichts der dramatischen Mietsituation Unterschriften für die Enteignung eines großen Wohnungsunternehmens. Der Zulauf ist beachtlich, der Senat wird sich mit dem Thema befassen müssen, auch wenn das Ergebnis des Volksbegehrens nicht bindend ist. Der Erfolg der Initiative macht konservative und neoliberale Politiker nervös. Sie warnen vor alt-linken Ideen, der Rückkehr des Staatssozialismus und fordern gar eine Verfassungsänderung. Artikel 15 des Grundgesetzes, der die Vergesellschaftung von Privateigentum gegen Entschädigung möglich macht, soll abgeschafft werden.

Nun ist es in der Tat die Frage, wie sinnvoll es für das finanzschwache Berlin ist, zweistellige Milliardenbeträge zur Entschädigung für vergesellschaftete Wohnungen zu zahlen. Wenn das Geld vorhanden wäre, was es nicht ist, wäre es sinnvoller, neuen Wohnraum zu schaffen. Die Stadt könnte sich so den marktwirtschaftlichen Grundsatz zunutze machen, dass ein steigendes Angebot den Preis in aller Regel senkt. Zumal es Jahre dauern würde, bis eine Enteignung durch alle Instanzen geklagt wäre.

Der Artikel 15 Grundgesetz wurde nämlich bisher noch nie in Anspruch genommen. Entsprechend herrscht beträchtliche Rechtsunsicherheit. Doch dies alles ist kein Grund, diesen Artikel abzuschaffen. Er ist eine notwendige Ergänzung des Artikel 14, der festlegt, dass Eigentum verpflichtet und sein Gebrauch zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen soll. Ohne Artikel 15 wäre dies eine pure Empfehlung ohne Nachdruck. Es gäbe für die Raff-Zähne dieser Republik noch weniger Anlass als bisher, sich wenigstens ein bisschen sozial zu verhalten. Ein Freifahrtschein also für diejenigen, die Infrastruktur, funktionierende Sozialsysteme und staatlich finanzierte Bildung für ihren Profit nutzen; auf der anderen Seite aber Geld außer Landes schaffen, Steuern hinterziehen und einzig darauf bedacht sind, ihren Reichtum zu mehren – ohne Rücksicht auf Verluste.

Als das Grundgesetz geschrieben wurde, herrschte bis weit in die CDU hinein große Skepsis gegenüber dem Kapitalismus. Schließlich war er nicht unschuldig an den großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Deshalb steht die Verfassung unterschiedlichen Wirtschaftssystemen neutral gegenüber. Anders als Rechtsstaat, Demokratie, Föderalismus und Sozialstaat hat die Marktwirtschaft keinen Verfassungsrang, obwohl Wirtschaftslobbyisten und neoliberale Politiker dies immer wieder so darstellen.

Angesichts der Schäden an Mensch, Natur und Klima, die das kapitalistische Wirtschaften weltweit anrichtet, muss es möglich sein, dieses System immer wieder kritisch zu hinterfragen. Die deutsche Verfassung verhindert das bewusst nicht.

Meistgelesene Leitartikel & Kommentare