Die 68er ziehen wieder in die WG

von Wolfgang Weissgerber

Wolfgang Weissgerber

Die alten 68er stehen nun am Anfang des Rentenalters oder sind schon mittendrin. Was ist geblieben von ihrem Aufbegehren gegen den Muff von 1000 Jahren? Flower-Power und freie Liebe oder die Erinnerung an die „Bleierne Zeit“ nach dem irren Versuch der Terroristen von RAF und „Bewegung 2. Juni“, eine Revolution anzuzetteln? Haben die 68er das Denken verändert, die Gesellschaft umgekrempelt? War ihr Marsch durch die Institutionen erfolgreich oder sind sie gescheitert? Es ist von allem wohl ein bisschen.

Eine nachhaltige Errungenschaft jener Zeit ist die Wohngemeinschaft, kurz WG genannt. Sie war Folge und Voraussetzung einer sich wandelnden Sexualmoral zugleich. Bis dahin war es in Deutschland nur schwer möglich, dass Menschen beiderlei Geschlechts eine gemeinsame Wohnung bezogen, ohne miteinander verheiratet zu sein. Bis 1927 war es faktisch ausgeschlossen, und noch bis 1970 galt Kuppelei als Straftatbestand. Der möblierte Herr zur Untermiete bei einer alleinstehenden Dame oder das Bratkartoffelverhältnis waren ein nur mühsam tolerierter Etikettenschwindel. Aber eine Wohnung zu mehreren? Ausgeschlossen!

Dann kam die Kommune 1. Was die Kommunarden um Rainer Langhans und andere damit in den Berliner Wohnungen der Schriftsteller Hans-Magnus Enzensberger und Uwe Johnson bezweckten, hat die Zeit nicht überdauert. Sie wollten die Kleinfamilie als angebliche Keimzelle des Faschismus überwinden und Frau und Mann gleiche Entwicklungschancen im Zusammenleben eröffnen.

Die sexuelle Revolution, die das Ende der herkömmlichen Ehe einläuten sollte, ging jedoch zulasten der Frauen, die sich – auch dank der neuen Anti-Baby-Pille – häufig als Sexualobjekte fühlten. Die Frauenbewegung der 1970er Jahre ist insofern auch ein Kind der 68er, indem sie die Allmachtsfantasien der sexuellen Revolutionäre entlarvte und zurechtstutzte.

Geblieben ist die WG. Sie ist heute eine in der Gesellschaft anerkannte Lebensform. Im Studium ist sie praktisch der Regelfall für alle, die weder im Wohnheim noch im Elternhaus Quartier nehmen. Viele alleinstehende Berufstätige schätzen die WG aus Kostengründen oder als Mittel gegen Einsamkeit. Auch im Alter finden Menschen Gefallen an dieser Lebensform. Als Angehörige der 68er Generation haben sie sie ja mit entwickelt.

Gemeinsames Wohnen unter einem Dach, gerne auch mit mehreren Generationen, bedeutet nicht automatisch den Verlust jeglicher Intimsphäre. Zwar gibt es auch klassische WGs mit gemeinsamer Küche und gemeinsamem Bad. Viel beliebter bei alten Paaren oder Einzelpersonen sind jedoch getrennte Wohnungen mit gemeinschaftlichen Begegnungsräumen. Womöglich geht es dort ein wenig gesitteter zu als in den ersten Kommunen. Im Vordergrund stehen die gegenseitige Hilfe und das gemeinschaftliche Leben anstelle von Einsamkeit.

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