Der Rat des Paulus: Verzichten ohne Pflicht

von Ruben Zimmermann

Ruben Zimmermann, Professor für Neues Testament und Ethik an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz

„Wenn du weiter Fleisch isst, machst du die Welt kaputt!“ Solche Vorwürfe mag niemand hören. Sie erzeugen Widerstand. Sie motivieren nicht zum Handeln. Wenn ich aus Pflicht handle, habe ich keine Alternative. Dann muss ich mich so verhalten. Eine solche Prinzipien- oder Pflichtenethik besticht durch ihre Radikalität. Sie gilt immer und überall, also universal. Eine Verzichtsethik hingegen ist pragmatisch. Ich kann mich mal so und mal so verhalten.

Es war ausgerechnet der jüdisch geprägte Apostel Paulus, der einer strengen Gesetzesethik widersprach und für die Freiwilligkeit des Verzichts warb. Dazu ein Beispiel aus dem 1. Korintherbrief: Paulus geriet in Kritik, weil er von der Gemeinde keinen Unterhalt annahm, obwohl das andere Apostel taten. In seiner Verteidigungsrede bekräftigte er zunächst das Recht für Missionare, Unterhalt zu bekommen. Trotzdem verzichtete er selbst darauf, damit die Verkündigung des Evangeliums besser gelingt (1. Korinther 9).

Der Apostel scheint sich seinen Verzicht nicht abzuringen. Er fühlt sich frei in seinem Entschluss. Und er wirbt bei den Korinthern, seinem Beispiel zu folgen. Zum Beispiel bei dem Streit um das sogenannte Götzenopferfleisch. In der Gemeinde war die Frage aufgekommen, ob man das in heidnischen Tempeln geschlachtete Fleisch als Christ essen darf. Sein Rat: Ihr dürft es essen, denn es gibt ja keine Götzen, also auch kein Götzenopferfleisch. Aber verzichtet lieber, damit sich niemand von euren Mitchristen darüber ärgert (1. Korinther 8 und 10). Paulus lädt zu einem bestimmten Verhalten ein. Sie sollen letztlich selbst entscheiden.

Was Paulus hier vorführt, kann man als eine Ethik des Verzichts beschreiben. Ein Mensch verzichtet auf eine Möglichkeit oder ein Recht. Der Verzicht steht im Dienst einer anderen Sache. Er wirkt auch auf den Verzichtenden selbst zurück. Er wird als Befreiung empfunden, ist Gewinn, nicht Verlust. Ein wesentliches Element des Verzichts ist die Freiwilligkeit. Hier wird nicht von anderen oder von Gesetzen eingefordert, wie man sich zu verhalten hat. Die Entscheidung zum Verzicht trifft jeder Mensch für sich selbst. Er oder sie muss sich nicht für immer und ewig dafür entscheiden. Man kann auch eine Zeit lang auf etwas verzichten.

Wir leben in einer Gesellschaft, in der die Inanspruchnahme von Rechten selbstverständlich ist. Man nimmt mit, was man bekommen kann, selbst wenn man es eigentlich gar nicht braucht. Aber kann eine Gesellschaft überleben, bei der jeder das Maximum für sich selbst herausholen will? Was wäre, wenn wir eine Kultur des Verzichtens entwickelten? Verzichten kann man nicht vorschreiben, nur vorleben und hoffen, dass andere ­dadurch motiviert werden. Denn: Verzicht ist keine Pflicht.

Der Autor ist Professor für Neues Testament und Ethik an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz.

Meistgelesene Leitartikel & Kommentare