Europa braucht eine neue Erzählung

von Klaus Koch

Klaus Koch

Die Städte lagen in Trümmern. Ein Weltenbrand hatte die Menschen tief verstört. Das war die Ausgangssituation, als sich europäische Staaten aufmachten, eine Gemeinschaft zu gründen. Die Erzählung, die diesem ­Vorhaben zugrunde lag, bestand im Prinzip aus drei Worten: Nie wieder Krieg! So ­begann in den 1950er Jahren ein faszinierendes Stück europäischer Geschichte. Nationen, die sich jahrhundertelang bekriegten, söhnten sich aus, wurden gute Nachbarn und entwickelten eine Sogwirkung, dass aus sechs Mitgliedern 28 wurden.

Doch jetzt droht das Erfolgsmodell zu ­zerbrechen. Viele Menschen verbinden mit Europa nicht mehr Frieden und Völker­verständigung, sondern Finanzkrise, Flüchtlingskrise und wuchernde Bürokratie. Doch daran sind nicht die europäischen ­Institutionen schuld. Unter den Politikern fast aller Parteien ist es in Mode, über „die in Brüssel“ zu schimpfen, die Milliarden Euro für Griechenland zu beklagen, die Milliarden für die eigene Landwirtschaft und Infrastruktur aber zu verschweigen. Europa ist zum Sündenbock verkommen. In dieser ­Situation ist der Austritt Großbritanniens eine Chance. Den Menschen auf der Insel dämmert schon wenige Tage nach dem Referendum, dass für viele europakritische Politiker nicht das Wohl des Landes, sondern das ihrer Partei und ihrer Karriere im Vordergrund steht. Der Brexit-Schock ist die Gelegenheit, eine neue Erzählung für Europa zu erfinden. Die Gemeinschaft ist nicht dafür da, nur die freie Entfaltung des Kapitals und den freien Fluss der Waren zu gewährleisten. Sie muss sich in erster Linie darum kümmern, dass die Menschen sicher und in gerechten Verhältnissen leben. Und das kann ein Land ­alleine seinen Bürgern nicht garantieren.

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