Weniger Tote sind eine ganze Menge

von Renate Haller

Renate Haller

Die „Sea-Watch 4“ ist ausgelaufen, um Menschen in Seenot zu retten. Finanziert ist der Umbau des ehemaligen Forschungsschiffs durch Spenden, zum großen Teil aus kirchlichen Kreisen. Kirchensteuermittel seien nicht geflossen, beteuert die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD). Ob mit den Spenden nicht doch der ein oder andere Steuer-Euro angekommen ist, bleibt unklar. Es ist auch unerheblich. Wichtig ist, dass die „Sea-Watch 4“ ausgelaufen ist.

Seit die Europäische Union die staatliche Seenotrettungs-Mission Sophia eingestellt hat, sind auf dem Mittelmeer nur noch die Schiffe privater Organisationen unterwegs. Wenn man sie lässt. Inzwischen seien „fast alle aktiven Seenotrettungs-Schiffe wegen angeblicher Sicherheitsmängel in Italien festgesetzt oder werden mit nicht erfüllbaren Auflagen am Einsatz gehindert“, kritisieren die Hilfsorganisationen in einer gemeinsamen Erklärung. Die Folge: Es war eine ganze Zeit lang kein ziviles Seenotrettungs-Schiff im Einsatz.

Einer der absurden Vorwürfe, mit denen sich die Organisationen herumschlagen müssen, lautet, sie hätten nach Rettungen mehr „Passagiere“ befördert, als in ihren Schiffspapieren zugelassen sind. An Zynismus ist dieses Argument kaum zu überbieten. Man stelle sich vor: Die Besatzung eines Rettungsschiffs holt zehn Flüchtlinge von einem sinkenden Seelenverkäufer, die restlichen 40 Frauen, Männer und Kinder lässt sie ertrinken: „Sorry, für euch haben wir keine Betriebserlaubnis.“ Kritiker des Projekts haben im Vorfeld vor allem drei Argumente eingebracht: Es ist nicht Aufgabe der Kirche, sich als Reederei zu betätigen. Die Seenotrettung löst einen Pulleffekt aus; das heißt, die Menschen setzen sich in die Schlauchboote, weil sie davon ausgehen, gerettet zu werden. Die Kirche wird zum Akteur einer Migrationspolitik, die jedem Menschen das Recht zugestehen will, in dem Land seiner Wahl zu leben.

Alle drei Punkte sind falsch: Die ­Kirche ist nicht Reederei, sondern Teil eines Bündnisses von 500 Mitgliedern, das die Finanzierung gestemmt hat. Betreiber ist die Seenotrettungs-
Organisation „Sea-Watch“. Den Pulleffekt weisen Migrationsforscher seit Jahren zurück. Die Verzweiflung der Menschen sei so groß, dass sie trotz Lebensgefahr in die Boote steigen. Die EKD ist sich sehr wohl bewusst, dass nicht alle Geretteten in Europa werden bleiben können. Aber sie ­haben ein Recht auf ein geordnetes Asylverfahren.

Und wieder geht das unwürdige Geschachere los, welches Land sich zur Aufnahme der Menschen bereit erklärt. Noch immer gibt es keinen geregelten Verteilmechanismus in der EU. Den muss sie schaffen, will sie sich als Wertegemeinschaft verstehen. Was bleibt, ist die traurige Tatsache, dass auch die „Sea-Watch 4“ das Sterben im Mittelmeer nicht beenden wird. Aber sie kann die Zahl der Toten verringern. Und das ist eine ganze Menge.

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