Flüchtlinge aus der Vergessenheit holen

von Florian Riesterer

Florian Riesterer

Milliardenschwere Hilfsprogramme für die Wirtschaft, Ausgangsbeschränkungen, die Verschiebung der Olympischen Spiele: Die Corona-Pandemie beherrrscht die Nachrichten im Netz, im Fernsehen, in Zeitungen, ist Thema jeder Talkrunde, drängt sich in den letzten Zipfel des Alltags.

Noch vor wenigen Wochen war es nicht das weltumspannende Virus, das die Schlagzeilen beherschte, sondern das Leid der Flüchtlinge, die auf den griechischen Inseln ausharren, in der Hoffnung, nach Europa zu kommen. Noch am 8. März hatte der Koalitionsausschuss entschieden, gemeinsam mit europäischen Partnern mindestens 1500 besonders schutzbedürftige Kinder von den ägäischen Inseln zu holen. Einen Tag darauf gab es in Nordrhein-Westfalen die ersten beiden Corona-Toten. Und das Thema verschwand aus den Nachrichten.

42000 Menschen leben auf Lesbos in Lagern, die für 7000 Menschen ausgelegt waren. Allein im Camp Moria harren 20000 Menschen aus. Hießen die Bewohner der Insel die Flüchtlinge anfangs noch willkommen, wandelte sich die Stimmung mit jedem weiteren Boot, das dort anlegte. Zuletzt verprügelten Schlägertrupps gar Flüchtlinge, Journalisten und Mitarbeiter von Hilfsorganisationen. Momentan ist es – wegen der griechenlandweiten Ausgangssperre – ruhiger. Aber etliche internationale Helfer haben die Inseln inzwischen verlassen. Auch aus Angst vor dem Coronavirus. Verzweifelt versuchte jüngst Heinrich Bedford-Strohm, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland, wieder den Blick auf die Flüchtlinge zu lenken. Gerade wegen Corona. Schließlich haben viele nur sehr eingeschränkten Zugang zu fließendem Wasser oder Seife – von ärztlicher Versorgung ganz zu schweigen. Die Nichtregierungsorganisation „Team Humanity“ hat dort inzwischen begonnen, Atemschutzmasken zu nähen.

Europa kann aus dieser Krise gestärkt hervorgehen. Jedoch nur, wenn sich trotz aller Grenzschließungen Solidarität durchsetzt. Die Beatmungspatienten, die Deutschland aus Italien und Frankreich aufnimmt, sind ein Beispiel, wie das aussehen kann. Warum also nicht auch Flüchtlinge von den griechischen Inseln aufnehmen? Der Vorschlag der EU-Kommission an die griechische Regierung, ältere und kranke Menschen aus den Lagern auf andere Teile der griechischen Inseln zu bringen, wo sie einer ebenso ungewissen Zukunft entgegensehen, ist zu kurz gedacht.

Jetzt wäre für alle der Zeitpunkt, Flüchtlinge aufzunehmen. Schließlich spüren alle Nationen dieser Tage, wie verwundbar sie sind – und wie notwendig es ist, sich gegenseitig zu helfen. Die Menschen in Europa haben gelernt, wie wichtig es ist, sich solidarisch mit den Schwächsten der Gesellschaft, mit Alten und Kranken zu zeigen. Jetzt muss Europa nur noch verstehen, dass diese Hilfsbereitschaft auch den in Griechenland ausharrenden Flüchtlingen gelten muss.

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