Vielschichtiges Beziehungsdrama

„Das Cottage in Carrigaholt“: Eine geschickt verwobene doppelte Liebesbeziehung auf zwei Zeitebenen

Ulrike Mirjam Wilhelm gelingt es, die Zeitspanne von 300 Jahren in der Pfalz und in Irland zu überbrücken: „Das Cottage in Carrigaholt“. Foto: pv

In der Pfalz aufgewachsen: Mirjam Wilhelm. Foto: pv

Wer sich auf eine kurzweilige und bewegte Reise zwischen der Pfalz und Irland, zwischen einem Frauenschicksal heute und vor rund 300 Jahren begeben will, für den oder die ist „Das Cottage in Carrigaholt“ genau richtig. Es ist bereits der fünfte Roman der in einem protestantischen Pfarrhaus in der Nordpfalz aufgewachsenen Autorin Ulrike Mirjam Wilhelm. Hat sie bisher bei großen Verlagen den Blick auf das Weltgeschehen unterschiedlicher Epochen gelenkt, liegt ihr im „Cottage“ ein konkretes Ereignis mit regionalem Bezug am Herzen. Es geht um die dramatische Flüchtlingskatastrophe, als protestantische Pfälzer um das Jahr 1709 in London strandeten und einige von ihnen am Ende in Irland gelandet sind (siehe unten).

Die Story ist eine erzählerisch geschickt verwobene doppelte Liebesbeziehung auf zwei Zeitebenen. Die freie Kunstlehrerin Luisa bekommt kurz vor ihrer Hochzeit mit dem „Businessman“ Andreas von ihren Eltern ein rustikales Cottage in einem verschlafenen Dorf an der Westküste Irlands zur Verfügung gestellt – als vorgezogenes Hochzeitsgeschenk. Ohne Handynetz und Fernsehapparat sind Konflikte zwischen der medialen Welt des Börsenabhängigen und der romantisierenden Professorentochter programmiert.

So ist ein Leitmotiv des Romans die Kritik am Materialismus und an der Technokratie auf der einen und der Vorwurf einer Öko-Freak-Weltvergessenheit auf der anderen Seite. Während Andreas sich tagsüber gerne in einem nahe gelegenen Golfresort mit Geschäftskontakten und Börsennachrichten aufhält, spitzt sich durch die Begegnung Luisas mit dem aus dem englischen Landadel stammenden Delphin-Aktivisten Patrick die Lage zu. Früh schon stellt sich die Frage: Wird die Beziehung von Luisa und Andreas das Ganze überstehen?

Dann entdeckt Luisa im Geheimfach eines alten Sekretärs ein Dokument, das auf eine Vorbesitzerin des Cottages hinweist: Emma, die 1709 aus der Pfalz ausgewandert war. Bei der Lektüre der für den Lesenden als Erzählung aufbereiteten Schilderung der damaligen Ereignisse stellt Luisa Gemeinsamkeiten zwischen sich und Emma fest. Gleichzeitig motiviert der Mut der jungen Frau, die 16-jährig als Junge verkleidet in die „Neue Welt“ aufbrach, die mit Selbstzweifeln geplagte Künstlerin. Durch Emma erleben die Lesenden die Situation in der damaligen Pfalz, das Schicksal von Auswanderern und von Frauen sowie die Probleme einer nicht standesgemäßen Beziehung in der damaligen Gesellschaft hautnah mit.

Auffällig ist im Roman eine der großen Leidenschaften Luisas – und wohl auch der Autorin. Täglich werden pfälzische Regionalgerichte zubereitet. Egal, in welch emotionaler Lage sich die Protagonistin befindet: Es gibt immer eine neue Koch- oder Back-Idee. Hier hätte sich der Leser gewünscht, wie bei Johannes Mario Simmels Roman „Es muss nicht immer Kaviar sein“, Rezepte auf Extraseiten präsentiert zu bekommen.

Insgesamt gelingt es der erfahrenen Autorin mit breiter Ausbildung im Kulturbereich, ein vielschichtiges Beziehungsdrama zu entwickeln, das in zwei wundervolle Landschaften, die Pfalz und die Westküste Irlands, eingebettet ist. Der Roman bietet jedoch weit mehr als das Psychogramm einer Lovestory. Lehrreich ohne belehrend zu wirken wird die Zeit der großen Auswanderung um 1709 lebendig. Man wird motiviert, die Beweggründe der damaligen Flucht genauer unter die Lupe zu nehmen. Dadurch ist der gut erzählte Roman aktuell. Auch bei uns spitzt sich die Flüchtlingskrise derzeit wieder zu. Letztlich bietet der Roman daher auch eine Antwort auf die Frage, was uns in der Pfalz mit Menschen auf der Flucht heute verbindet. Michael Landgraf

Mirjam Wilhelm: Das Cottage in Carriagaholt. Verlagshaus Speyer, 2020. 308 Seiten, Paperback, 14,90 Euro. ISBN 978-3-947534-10-4

Weit über 10000 pfälzische Flüchtlinge stranden in London

Die Katholiken werden sofort zurückgeschickt – Protestanten werden in der Pfalz mit Sondersteuern belegt und gesellschaftlich benachteiligt

Dramatische Fluchtgeschichten von Pfälzern gab es einige in der neueren Geschichte, doch ist kaum eine wie die aus dem Jahr 1709 dokumentiert. Damals betraf es weit über 10000 pfälzische Protestanten, die in London strandeten und notdürftig in Zelten am Rand der Metropole, beispielsweise in Greenwich, untergebracht wurden. Die dramatischen Verhältnisse in Londons Auffanglagern finden sich auch in Schilderungen des durch die „Schatzinsel“ bekannten Schriftstellers Daniel Defoe.

Hintergrund der Tragödie war die Armut durch den Pfälzischen und Spanischen Erbfolgekrieg sowie die damit verbundenen Abgaben, Ernteausfälle durch einen der kältesten Winter des Jahrtausends und vor allem die einsetzende religiöse Verfolgung der Protestanten in der Pfalz. Der pfälzische Kurfürst Johann Wilhelm (1658 bis 1716), der von Düsseldorf aus regierte, war zum katholischen Glauben übergetreten und hatte durch die kurpfälzische Religionsdeklaration von 1705 Kirchengüter der Protestanten enteignet. Protestantischen Bürgern wurde der gesellschaftliche Aufstieg verwehrt. Ihnen wurden besondere Steuern auferlegt.

Die erste große Massenauswanderung nach England und in dessen Kolonien wurde aufgeheizt durch Flugschriften mit dem Bild der englischen Queen ­Anne (1669 bis 1714), die in der Region am Rhein verbreitet wurden. Darin wurde den als glaubenstreu und eifrig geltenden Protestanten aus der Pfalz Land und Glaubensfreiheit versprochen. Über Rotterdam kamen die Flüchtlinge nach London. Katholiken wurden sofort wieder zurückgeschickt. Doch nur ein kleiner Teil der Protestanten konnte in England weitervermittelt werden.

Die hohe Zahl an Flüchtlingen überforderte bald die englischen Kommissare, die sich um Spenden kümmerten. Queen Anne selbst sorgte für weitere Unterstützung und stellte sogar rund 1000 deutschsprachige Bibeln bereit. Doch die Masse der Flüchtlinge führte zum Konflikt, denn da die „Palatines“ als billige Arbeitskräfte eingesetzt wurden, führte dies zum Preisverfall der Löhne und letztlich auch zu einer Regierungskrise. Rüdiger Renzing hat in seinem 1989 erschienenen Buch „Pfälzer in Irland“ für das Institut für pfälzische Geschichte und Volkskunde in Kaiserslautern diese Zeit besonders unter die Lupe genommen.

Die meisten Flüchtlinge wurden nach Übersee verschickt und landeten in Pennsylvania, doch rund 500 Familien mit etwa 3000 Personen wurden zwischen September 1709 und Januar 1710 in Irland angesiedelt. Viele von ihnen wurden Landpächter in der Grafschaft Limerick, wo die englische Oberschicht den neuen Untertanen mehr vertraute als den katholischen Iren, die immer wieder zu Aufständen neigten. Heute noch wird die Gegend um Rathkeale als „Pfälzisches Irland“ bezeichnet. Das bekannte irische Volkslied „The Palatines daughter“ erinnert an diese Zeit. ML

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