Vertrauen und Gezeter

Die Unterzeichnung des Moskauer Vertrags vor 50 Jahren ist der Grundstein der Ostpolitik • von Nils Sandrisser

Der Kniefall Willy Brandts in Warschau ist das Symbolbild der Ostpolitik der sozialliberalen Bundesregierung. Innenpolitisch ging die Debatte hoch her. Foto: epd/Keystone

Deutschland in den Grenzen von 1937. Foto: Wikimedia Commons

Die Ostpolitik der sozialliberalen Bundesregierung gilt als epochemachendes Werk westdeutscher Politik. Innenpolitisch allerdings war sie hochumstritten. Der schrille Widerstand der Unionsparteien war letztlich vor allem Parteitaktik.

Die Verhandlungen waren langwierig, die Unterzeichungszeremonie umso kürzer. Ganze zehn Minuten dauert es, als Bundeskanzler Willy Brandt (SPD), Außenminister Walter Scheel (FDP) sowie Alexej Kossygin und Andrej Gromyko, Ministerpräsident und Außenminister der UdSSR, im Katharinensaal des Kreml in Moskau ihre Namen unter das Dokument setzen.

Dieses Dokument, der Moskauer Vertrag, legt vor 50 Jahren den Grundstein der „Neuen Ostpolitik“ der sozialliberalen Bundesregierung. Damit befreit die Koalition sich aus einer außenpolitischen Sackgasse, in die sich die Bundesrepublik hineinmanövriert hatte.

Bis 1969, dem Regierungsantritt der sozialliberalen Koalition, verharrte Westdeutschland in einer starren Haltung. Es ignorierte weitgehend die Existenz der DDR und drohte allen Staaten, die sich an Ostdeutschland annäherten, mit Beziehungsabbruch. Die Abtrennung der Gebiete östlich von Oder und Neiße, die nach dem Zweiten Weltkrieg an Polen und die UdSSR gegangen waren, hatte es nie offiziell akzeptiert. Oberstes Ziel blieb die Wiedervereinigung.

Ein Ziel, das unerreichbar schien, jedenfalls mit friedlichen Mitteln, und ein wesentlicher Grund dafür, warum die Regierungen östlich des Eisernen Vorhangs der Bundesrepublik mit erheblichem Misstrauen gegenübertraten. SPD und FDP wollten der Außenpolitik neuen Spielraum verschaffen. Wie das gehen könnte, hatte Egon Bahr, damals noch Leiter des Berliner Presseamts unter dem Regierenden Bürgermeister Willy Brandt, schon 1963 formuliert: die „Überwindung des Status quo, indem der Status quo zunächst nicht verändert werden soll“. Bahr, in der sozialliberalen Koalition Staatssekretär im Kanzleramt, ist Herz und Hirn der Ostpolitik.

Im Moskauer Vertrag erklären daher die BRD und die UdSSR, auf Gewalt in ihren beiderseitigen Beziehungen zu verzichten. Die bestehenden Grenzen bezeichnen sie als unverletzlich. „Diese auch formale Anerkennung des Status quo mit der Zusage, ihn nicht gewaltsam zu verändern, war sicherlich entscheidend für die Beruhigung der Siegermacht UdSSR und zumal Polens“, erklärt der Historiker Jan Lipinsky vom Herder-Institut für Ostmitteleuropaforschung in Marburg.

Brandt baut nicht nur mit Worten auf Papier Vertrauen auf. Bei einem Besuch in Warschau im Dezember 1970 fällt er vor dem Mahnmal zur Erinnerung an den Aufstand im Warschauer Ghetto auf die Knie. Das Foto des knieenden Brandt geht als Ikone eines neuen, gewandelten Deutschlands um die Welt. Brandt erhält für die Ostpolitik im Jahr darauf den Friedensnobelpreis.

Nicht nur im Osten müssen Brandt, Bahr und Scheel Misstrauen überwinden. Die USA fürchten, die Bundesrepublik könnte aus dem westlichen Gefüge ausbrechen – so wie drei Jahre zuvor Frankreich, das unter Charles de Gaulle die militärische Struktur der Nato verlassen hatte und nun eine eigenständige Politik in Bezug auf den Kreml verfolgte. Auch Frankreich argwöhnt, die Westdeutschen könnten in Richtung des östlichen Lagers abdriften – immerhin verfügt die Sowjetunion über das Lockmittel der Wiedervereinigung. Letztlich lassen die Alliierten der BRD aber relativ freie Hand. Denn die Gewichte der Weltpolitik hatten sich verschoben, erläutert der Marburger Forscher Lipinsky: „Statt offensivem Rollback bemühten sich die USA um Entspannung, Betonung gemeinsamer statt trennender Interessen und eine globale Friedensstrategie.“

Innenpolitisch kommt Widerstand von der Union. CDU und CSU zetern, die Regierung Brandt gebe die Gebiete östlich von Oder und Neiße „ohne Not“ auf, die Ostverträge bedeuteten ein „zweites Versailles“ und „Deutschlands Kapitulation“. Brandt rechtfertigt sich: „Mit diesem Vertrag geht nichts verloren, was nicht längst verspielt worden war.“

Genau genommen geht sogar nicht einmal das verloren. Denn der Vertrag nennt die Grenzen „unverletzlich“, aber eben nicht „unveränderbar“. In gegenseitigem Einvernehmen wären Grenzveränderungen noch möglich – und genau das geschieht ja später, als 1990 die DDR der Bundesrepublik beitritt.

Letztlich ist das Gezeter der Unionsparteien Parteitaktik. Denn die rund zwölf Millionen Vertriebenen lehnen jedwede Zugeständnisse an den Osten meist rundweg ab – und sie sind das Wählerklientel der Union. „Es wäre politischer Selbstmord gewesen, wenn CDU und CSU der Ostpolitik zugestimmt hätten“, sagt der emeritierte Potsdamer Historiker Manfred Görtemaker.

Einige in der Union sehen sehr wohl die Chancen, die für die Bundesrepublik in den Ostverträgen liegen. Als CDU-Chef Rainer Barzel im April 1972 versucht, Bundeskanzler Brandt durch ein Misstrauensvotum zu stürzen, soll direkt danach der designierte CDU-Außenminister Gerhard Schröder nach Moskau fliegen – nicht etwa, um den Vertrag rückgängig zu machen, sondern um ihn im Kern zu bestätigen. Die Flugtickets für Schröder sind schon gebucht, da man sich in der CDU nicht vorstellen kann, dass das Misstrauensvotum scheitern könne. Genau das tut es aber.

Die westdeutsche Öffentlichkeit ist bei der Frage der Ostpolitik tief gespalten. Schon seit Mitte der 1960er Jahre ist Bewegung in die öffentliche Meinung bezüglich des Umgangs mit den östlichen Nachbarn gekommen. Großen Anteil daran hatte die Ost-Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). In dem Papier vom 15. September 1965 hieß es, dass „das deutsche Volk auf die Realitäten vorbereitet werden müsse“. Und diese Realitäten sahen eben so aus, dass eine Wiedervereinigung oder ein Wiedergewinn der Ostgebiete auf absehbare Zeit unvorstellbar waren. Diese Realitäten anzuerkennen, sei damals für viele Menschen in der Bundesrepublik nur schwer möglich gewesen, erklärt Görtemaker.

Im Bundestags-Wahlkampf 1972 prallen diese Positionen aufeinander. Die Ostpolitik ist sein bestimmendes Thema. Bei der Wahl am 19. November gehen aus heutiger Sicht unvorstellbare 91,1 Prozent der Wähler an die Urne – und sie bestätigen die sozialliberale Regierung im Amt. Die SPD wird vor der CDU/CSU stärkste Fraktion im Bundestag.

„Die Ostpolitik schuf neues Vertrauen und war sicherlich dringend an der Zeit, um damals nicht in der Negierung des Status quo zu beharren“, resümiert der Marburger Historiker Lipinsky. Sein Kollege Görtemaker sieht in der Ostpolitik sogar den Keim der späteren Wende. Denn sie habe die Schleusen geöffnet für die gesellschaftliche Öffnung im Ostblock. In der Tat werden Bürgerrechtler ab den 1970er Jahren in den Warschauer-Pakt-Staaten zunehmend lauter. „Die Ostpolitik war für die Sowjetunion letztlich gefährlicher als der Kalte Krieg“, sagt Görtemaker.

Video der Unterzeichnung des Moskauer Vertrags: http://u.epd.de/1jcn.

Wortlaut des Moskauer Vertrags: http://u.epd.de/1jcp.

Die Ostverträge

Der Moskauer Vertrag ist nur der Anfang der Ostpolitik – und muss es auch sein. Der Bundesregierung ist klar, dass vor einer Verständigung mit den direkten Nachbarn erst jene mit der UdSSR kommen muss. Hernach folgen weitere Verträge mit Polen, der Tschechoslowakei und sogar mit der DDR.

Im Moskauer Vertrag vom 12. Dezember 1970 stellen die Sowjetunion und die Bundesrepublik ihre Beziehungen auf die Grundlage der UN-Charta. Sie erklären, in ihren beiderseitigen Beziehungen auf Gewalt verzichten zu wollen. Die bestehenden Grenzen bezeichnet das Papier als unverletzlich. Die beiden Staaten vereinbaren, ihren wirtschaftlichen Austausch zu intensivieren.

Die anderen Ostverträge – mit Polen, der DDR und der Tschechoslowakei – haben ähnliche Wortlaute: unverletzliche Grenzen und Gewaltverzicht. Der Warschauer Vertrag vom 7. Dezember 1970 legt in seinem ersten Artikel die Oder-Neiße-Linie als polnische Westgrenze fest.

Im Grundvertrag mit der DDR vom 21. Dezember 1972 rückt die BRD erstmals von ihrem Anspruch ab, sie allein dürfe die Deutschen vertreten. Das bedeutet eine Anerkennung der DDR als gleichberechtigt. Die Anerkennung reicht aber nicht so weit, dass die BRD bereit wäre, Botschafter mit dem ostdeutschen Staat auszutauschen. Dafür schicken Bonn und Ost-Berlin nun „Ständige Vertreter“ an die Regierungssitze der Gegenseite, was fast auf dasselbe hinausläuft.

Der Prager Vertrag vom 11. Dezember 1973 erklärt das Münchener Abkommen von 1938 für nichtig. In München hatte Hitler damals die Abtretung des Sudetenlands erpresst. Prag argumentiert, das Abkommen sei ohne die Beteiligung der Tschechoslowakei geschlossen worden und daher von Anfang an (ex tunc) ungültig. Die Bundesregierung betrachtet das Münchener Abkommen dagegen ab sofort (ex nunc) als nichtig.

Die Frage hat große Bedeutung für Schadenersatzansprüche vertriebener Sudetendeutscher. Wäre das Münchener Abkommen von Anfang an ungültig, wären sie juristisch betrachtet nie Deutsche geworden, sondern stets tschechoslowakische Staatsbürger geblieben. Alle Verbrechen an Sudetendeutschen während der Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg wären dann Verbrechen von Tschechoslowaken an Tschechoslowaken gewesen – und nach tschechoslowakischem Recht seit 1965 außer Mord allesamt verjährt. Welche Sicht maßgeblich ist, bleibt in dem Vertrag offen. Das Bundesverfassungsgericht urteilt später, die Bundesrepublik sei auch nach der Unterzeichnung noch berechtigt, die Forderungen der Sudetendeutschen gegenüber Prag zu vertreten. red

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