Lieblose und verächtliche Sprache

„Deutschland schafft sich ab“ hat vor zehn Jahren eine Zeitenwende markiert • von Eberhard Pausch

Hält Migranten für dumm: Sarrazin bei der Evangelischen Akademie Tutzing. Foto: epd

Verantwortungsethisches Denken nimmt mögliche Konsequenzen, Risiken und Nebenwirkungen menschlichen Handelns vorab in den Blick ­ soweit uns Menschen dies möglich ist. Ob Thilo Sarrazin die Folgen seines Handelns bedachte, als er 2010 sein Buch „Deutschland schafft sich ab“ veröffentlichte, können wir nicht wissen.

Wir wissen aber, dass dieses Buch und die in ihm vertretenen Thesen eine außerordentlich breite Rezeption erfuhren; schon nach einigen Monaten waren 1,5 Millionen Exemplare verkauft. Sarrazin, Mitglied der SPD und ehemals Finanzsenator in Berlin, hatte einen Bestseller verfasst. Seine Äußerungen haben Sarrazin mehrfache bis heute nicht ganz abgeschlossene Parteiausschlussverfahren eingebracht. Aus Sicht der SPD hat Sarrazin seiner Partei schwer geschadet, vor allem aber den Aufstieg rechtspopulistischer Strömungen begünstigt, die die bundesdeutsche Demokratie insgesamt gefährden.

Unterzieht man „Deutschland schafft sich ab“ nach zehn Jahren einer kritischen Re-Lektüre, so fällt auf: Der Autor suggeriert eine hohe Wissenschaftlichkeit durch eine Fülle von Zahlen und Statistiken, mit denen er seine Thesen zu belegen sucht. Nun ist Sarrazin offenbar ein Mensch der Zahlen, was ihm nicht vorzuwerfen ist. Jede einzelne Statistik ist aber immer vielseitig interpretierbar, sodass Vexierbilder und falsche Bilder der Wirklichkeit entstehen können, was Sarrazin unterschlägt. Die scheinbare Wissenschaftlichkeit seiner Untersuchung ist daher von verschiedenen Seiten immer wieder angegriffen und seine vermeintliche Objektivität vielfach entlarvt worden. Hinter der glitzernden Zahlenfassade steckt eine rechtsnationale Ideologie.

Den Entwicklungsvorsprung Europas und Nordamerikas gegenüber anderen Kontinenten führt Sarrazin auf die technologische Revolution zurück, die den Erfolg beider Erdteile im Vergleich mit anderen ermöglicht habe. Dass dem jahrhundertelange Ausbeutung etwa des Kontinents Afrika durch Sklaverei und Kolonialismus vorangegangen waren, die die Innovationsschübe im 19. und 20. Jahrhundert erst ermöglichteen, davon ist an keiner Stelle die Rede. Sarrazin geht ferner davon aus, es gebe in der Welt „zähe Völkerstrukturen“, daher werde es auch in 100 Jahren in Europa noch Nationalstaaten geben. Es ist zumindest fraglich, ob diese These mit einer menschenfreundlichen Friedensvision für Europa zusammenpasst.

Viel Kritik hat die These von der überwiegenden Erblichkeit von Intelligenz auf sich gezogen, die Sarrazin auf „60 zu 40“ beziffert. Er attestiert auf dieser groben Zahlengrundlage Migrantinnen und Migranten überwiegend eine unaufhebbare „Dummheit“, die sich wegen deren großer „Fertilität“ negativ auf die Gesellschaftsstruktur auswirke. Immer wieder verwendet Sarrazin eine lieblose und verächtliche Sprache, um Menschen und Menschengruppen zu kennzeichnen. Auch redet er undifferenziert von „den Deutschen“, „den Juden“ und „den Fremden“, als ob die einen oder die anderen homogene Gruppen wären.

Ferner pauschaliert er, indem er sagt: „Das geschieht millionenfach“ beziehungsweise „Millionen sind so“, wenn er von Sozialhilfemissbrauch spricht. Er kontrastiert sodann „intelligente“ Menschen mit den „Dümmeren“: Die einen sind seines Erachtens dümmer als die anderen. Das ist keine wissenschaftliche und erst recht keine vornehme Sprache. Dass er von der „Fertilität“ von „Deutschen“ und „Muslimen“ redet, könnte man für Soziologendeutsch halten. Aber es klingt zugleich biologistisch und sozialdarwinistisch.

Seine an anderer Stelle flankierend geäußerte Rede von der „Produktion von Kopftuchmädchen“ ist dagegen sehr diffamierend gegenüber Muslimen und wird allenfalls noch von der AfD-Bundestagsabgeordneten Alice Weidel überboten, die den „Kopftuchmädchen“ im Jahr 2018 die „alimentierten Messermänner“ zur Seite stellte.

Die heutige Verrohung der öffentlichen und politischen Sprache hat von derartigen Begriffen und Äußerungen starke Impulse bekommen. Als Berliner Finanzsenator hatte Thilo Sarrazin kurz nach Inkrafttreten der Hartz-IV-Gesetze gesagt, die rechtlich neu fixierte „Grundsicherung“ sei mehr als ausreichend. Er habe den „detaillierten Nachweis“ geführt, dass man sich mit dem Betrag für Essen und Getränke, der in der Grundsicherung vorgesehen sei, „gesund und abwechslungsreich“ ernähren könne. Auch helfe das Tragen von Pullovern im Winter, Energiekosten zu sparen, da man so weniger heizen müsste. Das musste in den Ohren von sozial schwachen Personen wie Hohn klingen.

Nimmt man alle diese Beobachtungen zusammen, so spricht manches dafür, dass Sarrazins Buch eine Zeitenwende für Deutschland markiert. Seitdem sind eine rechtspopulistische Bewegung (Pegida) und mit der AfD eine im Bundestag sowie in allen Länderparlamenten vertretene rechtspopulistische, demokratiefeindliche Partei entstanden, mit deren Vertretern Sarrazin bedenkenlos Kontakte pflegt, wie nicht nur sein Auftritt beim sogenannten „Neuen Hambacher Fest“ der nationalen Rechten im Jahr 2018 bewiesen hat.

Im vergangenen Jahrzehnt haben die großen demokratischen Parteien, die unsere Gesellschaft über Jahrzehnte geprägt haben, viele Wähler verloren. Diese Stimmen gingen in nicht unerheblichem Umfang an die AfD. Das demokratische Gemeinwesen trägt Kratzer und Wunden im Gesicht. Dafür gibt es sicherlich eine Reihe von Ursachen, und man würde Sarrazins Äußerungen wohl überbewerten, wenn man all diese Entwicklungen auf sie zurückführte.

Monokausale Deutungen verbieten sich nicht nur in diesem Zusammenhang. Und was wäre Sarrazin ohne den in der Gesellschaft vorhandenen Resonanzboden gewesen, in dem seine Thesen fruchtbar wurden? Und doch: Ohne ihn, ohne das Buch eines SPD-Mitglieds, das sich Lichtjahre von den Grundwerten dieser Partei entfernt hat und eben deswegen Aufmerksamkeit auf sich zog, wäre die Geschichte der Bundesrepublik in der letzten Dekade vermutlich anders verlaufen.

Der Autor beteuert wiederholt, er kämpfe bloß gegen die „Political Correctness“ an, die sich in unserer Gesellschaft ausgebreitet habe. Ja, er decke „Tabus“ auf und enthülle so die eigentliche Wahrheit über unsere gesellschaftliche Situation, die von anderen verschwiegen werde. Dieses Versatzstück wurde seit 2010 ein Klassiker im Argumentationsschatz der Rechtspopulisten und wird vielfach geglaubt.

Sarrazin hat natürlich nicht mit allem, was er sagt, Unrecht. In „Deutschland schafft sich ab“ gibt es beispielsweise Passagen, in denen er die Politik des türkischen Präsidenten Erdogan kritisch bewertet und eine problematische Fortentwicklung dieser Politik prognostiziert. Damit hat er zweifellos Recht behalten.

Auch wertet er nicht „den Islam“ als solchen ab, er kennt und nennt liberale Muslime wie Navid Kermani und Bas­sam Tibi. Aber in der Summe sieht er im Islam vor allem die Gefahr des Islamismus, die Bedrohung durch eine angeblich im Erbgut fixierte „Dummheit“ und eine verderbliche „Sozialschmarotzerei“ in den Kreisen von (überwiegend muslimischen) Migranten. Die Ideologen der „Neuen Rechten“ um Götz Kubitschek erkannten früh, welche Chance sich ihnen mit der Büchse der Pandora bot, die Sarrazin geöffnet hatte.

Aus der Perspektive einer verantwortungsethisch argumentierenden evangelischen Sozialethik bewerte ich Thilo Sarrazins Reden und Handeln im Rückblick als höchst problematisch. Denn, erstens: Wer nicht den „Clash of Civilizations“ in der Mitte unserer Gesellschaft befördern will, der muss einen fairen und menschenfreundlichen Dialog mit den Vertretern des Islam führen. Sozialdarwinistische Thesen haben in diesem Dialog keinen Platz. Zweitens: Wer den Sozialstaat weiterentwickeln will, darf weder die Empfänger sozialer Grundsicherung verspotten noch soziale Hierarchien genetisch festschreiben, sondern muss alles dafür tun, Menschen in prekären Verhältnissen durch Hilfe zur Selbsthilfe zu stärken. Drittens: Wer nicht will, dass demokratische Parteien erodieren und Mehrheitsbildungen durch die Zersplitterung von Parlamenten wie zuletzt in Thüringen immer schwieriger werden, der sollte mit seinen öffentlichen Äußerungen die bewährten Wege und Instrumente politischer Willensbildung nicht beschädigen.

Alle drei Anliegen überschneiden sich in der Forderung, in öffentlicher Rede eine differenziert argumentierende, empathische, mindestens aber respektvolle Sprache zu verwenden. Es wäre hilfreich, um ein zentrales Anliegen des emeritierten Heidelberger Theologen Wilfried Härle aufzunehmen, von einer zeitgemäßen „Ethik der Sprache“ aus zu denken. Eine ver­ant­wor­tungs­sen­sib­le Sprache tut dem demokratischen Gemeinwesen gut. Sie gehört daher zu den grundlegenden Tugenden, derer die Demokratie nach christlicher Einsicht bedarf, um krisenfest und zukunftsfähig zu sein.

Pfarrer Dr. Eberhard Pausch ist Studienleiter der Evangelischen Akademie Frankfurt. Der Beitrag erschien zuerst in „Zeitzeichen“ 4/2020.

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