Interreligiös und kultursensibel

Grundfragen der kirchlichen Krankenhausseelsorge in einer pluralen Gesellschaft

Spannungsverhältnis: Seelsorge zwischen Kirchlichkeit und Offenheit für alle. Foto: epd

Nimmt man die Pluralisierung der Gesellschaft mit der demografischen Entwicklung und den Entkirchlichungstendenzen zusammen, ist absehbar, dass bei Aufrechterhaltung der Präsenz in öffentlichen Anstalten Seelsorge zunehmend Menschen begegnet, die konfessionslos sind oder einer anderen Konfession oder Religion angehören. Diese Entwicklung wirft grundsätzliche Fragen auf.

Längst sind interreligiöse oder kultursensible Seelsorgesituationen Realität. Und die Praxis zeigt, dass die Begleitung von Menschen anderer Konfession, Religion oder kultureller Prägung nicht nur möglich ist, sondern in der Regel auch gelingt. Zumindest auf der zwischenmenschlichen Ebene. Dies findet einen seiner Gründe im humanistischen, dem vorbehaltlos Menschen zugewandten Charakter evangelischer Seelsorge.

Einer der Sätze, die für mich zentrale Bedeutung haben, ist der berühmte von Cicely Saunders, der Gründerin des ersten modernen Hospizes 1967 in London: „Es geht nicht darum, dem Leben mehr Tage zu geben, sondern den Tagen mehr Leben.“ Seelsorglichem Wirken auf dieser Basis geht es um die Entwicklung einer Kultur der Sorge um den Menschen, und zwar im Wissen um die Grenzen des Möglichen, der Endlichkeit des Lebens und der Jenseitsverheißung. In diesen drei Bezügen technischer oder medizinischer Machbarkeit, menschlicher Endlichkeit und göttlicher Verheißung verorte ich Seelsorge an den Schnittstellen von Krankheit, Leben und Tod. Hieraus wird deutlich, dass ihre humanistische Ausrichtung eingebettet ist in religiöse Voraussetzungen.

Kirchliche Seelsorge steht in einem Spannungsverhältnis. Auf der einen Seite gilt sie als „Muttersprache der Kirche“. Daraus folgt, dass alles, was Kirche „spricht“, Seelsorge ist, wie auch umgekehrt in der Seelsorge Kirche zum Ausdruck gebracht wird, und damit christliche Werte, Glaubensgewissheiten und Verheißungshoffnungen ihr Fundament bilden. Auf der anderen Seite betonen die Hamburger Thesen von 2007: „Notfallseelsorge richtet sich an alle Menschen und achtet das Recht auf Selbstbestimmung und die religiöse und weltanschauliche Orientierung der Betroffenen.“ Dieser Anspruch lässt sich grundsätzlich auf andere Seelsorgefelder übertragen.

Zwischen Akzentuierung des Kirchlichen und Offenheit für alle ergeben sich verschiedene Fragehorizonte. Diese betreffen sowohl das Organisatorische wie das Konzeptionelle, Normatives wie Theologisches. Sie lassen sich zusammenführen in der Frage, was „Seelsorge für alle“ konkret bedeutet und worin die Herausforderungen liegen?

Verfassungsrechtlich ist die seelsorgliche Zuwendung zu Nichtangehörigen der eigenen Glaubensgemeinschaft in öffentlichen Anstalten kein Problem. Zwar wurde Seelsorge als ein Bringrecht der Religionsgemeinschaften im Blick auf die eigenen Mitglieder in der Weimarer Reichsverfassung verankert und später ins Grundgesetz übernommen. Dadurch jedoch, dass niemand gezwungen werden darf, ihre oder sei­ne Religionszugehörigkeit offenzulegen, respektive es in bestimmten Fällen Personen nicht möglich ist, sich zu ihrer Religionszugehörigkeit zu äußern, betrifft das Seelsorge-Angebot implizit auch Andersgläubige oder kann von diesen in Anspruch genommen werden.

Auch theologisch lässt sich die Sorge für den anderen begründen. Herangezogen werden können sowohl das biblische Grundmotiv von Dasein als In-Beziehung-Sein wie auch die Erzählungen, in denen die sorgende Verantwortlichkeit über die Grenzen der eigenen Religionszugehörigkeit hinaus im Mittelpunkt steht. Zudem sei an das endzeitliche Szenario im Matthäusevangelium erinnert, bei dem sich Jesus mit „den Geringsten“ in Krankheit, Hunger oder Inhaftierung identifiziert.

Gleichwohl lebt Seelsorge und speist sich aus fundamentalen Glaubensüberzeugungen, die sich von den Gewissheiten und Bekenntnissen anderer unterscheiden und deren Pfeiler sich auf die seelsorgerliche Begleitung und in ihr Kommunikationsgeschehen auswirken. Dies gilt es theologisch zu reflektieren.

Was bedeutet es, aus den eigenen Bezugspunkten wie der Kreuzestheologie heraus Muslime seelsorglich zu betreuen? Auf welcher Grundlage können Glaubensgewissheiten mit der religiösen Orientierung Andersgläubiger miteinander in Verbindung gebracht werden, wenn dabei unterschiedliche Auffassungen über Gott, Spiritualität, Religion und Glauben aufeinandertreffen? Können Sinnfragen abstrahiert werden von religiösen Grundeinstellungen? Kann, soll oder muss Seelsorge, indem sie sich anderen Glaubensüberzeugungen öffnet, Inhalte und Elemente dieser aufgreifen und integrieren? Bedeutet die proklamierte „Offenheit für alle“, dass sich Seelsorge auf Normen, Werte, Urteile, Wahrnehmungs- und Begründungsmuster einstellen können muss, die möglicherweise die Revision der eigenen erfordern? Wie weit muss der Perspektivenwechsel vollzogen werden, um die Bedürfnislage des Gegenübers zu verstehen?

Glaubenswahrheiten bleiben in dem Maß verschlossen, in dem sie sich anderen Glaubenslehren entziehen. Oder umgekehrt formuliert: Ein vollständiges Erschließen und damit ein vollständiger Perspektivenwechsel bedeutete die Konversion. Wird Seelsorge folglich zu einem eigenen Ort interreligiösen Dialogs? Oder tendiert sie im interreligiösen Setting angesichts der Unmöglichkeit, dem Geforderten gerecht werden zu können, zur neutralen Beratung? Kann ich in der seelsorgerlichen Begleitung von Muslimen christliche Elemente ins Gespräch bringen oder verwenden – biblische Texte, geistliche Lieder, Gebete, Bilder, Symbole, Segensworte? Kann ich islamische Elemente integrieren wie die Bismillah-Formel oder das muslimische Glaubensbekenntnis?

Muslimische Notfallseelsorgerinnen berichten, bei Bedarf das Vaterunser mit christlichen Hinterbliebenen zu beten. Kann umgekehrt kirchliche Seelsorge die Sure Al-Fatiha in ihren Gebetsfundus aufnehmen? Muss ich mich in Denkwelten hineinfinden, in denen Djinn, Zwischenwesen, ein Anteil am Ergehen der Menschen zuerkannt wird?

Ergänzt werden solche religiösen, theologischen und ritualtechnischen Überlegungen durch kulturelle und soziale Gesichtspunkte. Hinzukommen Grenzerfahrungen, die, obwohl sie im seelsorgerlichen Gespräch mitunter unausgesprochen bleiben, elementare Bedeutung besitzen. Zu denken ist an Flucht und erzwungene Migration, an angedrohte und erlittene Gewalt, an gesellschaftliche Indifferenz, Diskriminierung und Ausgrenzungserfahrungen. Auf eine Formel gebracht bedeutet dies: Das Lesen im Buch des anderen bedarf einer Differenzhermeneutik. Kann Seelsorge die dafür angemessenen Auslegungsparameter ausprägen, übernehmen, integrieren?

Die Klärung dieser Frage schließt die persönliche theologische Verortung der Seelsorgerinnen und Seelsorger in der interreligiösen Verhältnisbestimmung ein. Ob ich ein pluralistisches, inklusivistisches oder exklusivistisches Verständnis mitbringe, nimmt Einfluss auf die Art und Weise, wie ich mich Andersgläubigen nähere und öffne. Zugleich gilt es, sich selbst in seinen Veränderungen zu beobachten, die durch den interreligiösen Seelsorgeprozess hervorgerufen werden.

Bleibt ein letzter Punkt. Dem kirchlichen Seelsorge-Anspruch, für alle da zu sein, kontrastiert der islamische, ein Seelsorgeangebot für die eigenen Glaubensgeschwister zu entwickeln. Der interreligiösen Weitung steht so eine Rekonfessionalisierung gegenüber, der inneren Öffnung zum Fremden der Rückzug ins Eigene. Und mehr noch: Während die Personalentwicklung einen Engpass in der hauptamtlichen kirchlichen Seelsorge erahnen lässt und ehrenamtliches Engagement in Zukunft mutmaßlich stärker in den Fokus rücken wird, scheint die Bewegung auf islamischer Seite den umgekehrten Verlauf zu nehmen. Den Initiativen, zumindest auf ehrenamtlicher Basis überhaupt Seelsorge anzubieten, wohnt das Bedürfnis nach einer hauptamtlichen Versorgung inne.

Zieht man dann noch in Betracht, dass mit Spiritual Care weitere Berufsgruppen das Aufgabenfeld von Seelsorge besetzen, so gilt es, ein Konzept kirchlicher Seelsorge in der pluralen Gesellschaft zu entwerfen, das sich klar gegenüber Fragen zu konfessioneller Bindung und Interreligiosität inklusive interreligiösen Seelsorgeteams als deren Konsequenz positioniert, die eigenen Standards zu allgemeinen seelsorglichen Kenntnissen und Fähigkeiten in Kontrast setzt und die Ausbildung um nötige neue Inhalte wie religionswissenschaftliches Wissen und interreligiöse Kompetenz ergänzt.

Dr. Georg Wenz ist Islambeauftragter der pfälzischen Landeskirche und stellvertretender Direktor der Evangelischen Akademie der Pfalz. Den Vortrag hielt er am 2. Juli 2019 auf einer Tagung der westfälischen Landeskirche und des Erzbistums Paderborn (siehe epd-Dokumentation Nr. 18/2020; Bestellmöglichkeit: kundenservice(at)nospamgep.de).

Meistgelesene Artikel