Die Dokumentation: Kein Sonntag in Sicht

Gesellschaftlicher Wandel und kirchliches Handeln bedrohen den Tag des Herrn

Als seelisches Erlebnis- und Gravitationszentrum unverzichtbar: Der Sonntag. Foto: epd

Ist die Beziehung der evangelischen Kirche zum Sonntag und zum kirchlichen Festtag abgekühlt? Spielt Feiertagstradition noch eine Rolle? Diese Fragen können empirisch beantwortet werden, etwa mit Blick auf Statistiken zum Gottesdienstbesuch. Wodurch wird die Beziehung aber gepflegt? Und wie ist die Beziehung offiziell, also seitens der Kirchenordnung angelegt? Eine erste Antwort gibt ein traditionsreiches Lehrbuch des evangelischen Kirchenrechts: „Die Feier der Festtage ist in den landesherrlichen Sabbats- und anderen Verordnungen und in den gemeinen Rechten vorgeschrieben und näher bestimmt worden. Der weltlichen Obrigkeit und den polizei Kollegien kömmt daher hiebei die Aufsicht, Dispensation und die Bestrafung der Verletzung derselben, zu.“

So lehrte es Hofrat Schnaubert im Jena des Jahres 1792. Damit umriss er eine Rechtslage, die uns heute – je nach Blickwinkel – als selbstverständlich oder als überraschend erscheint: Sonn- und Feiertagsrecht ist ein Gegenstand des Staatsrechts, kein Thema des evangelischen Kirchenrechts.

Bestärkt wird dieser Eindruck beim Blick in die Stichwortregister der aktuellen Literatur. Das Handbuch für Presbyterinnen und Presbyter der Evangelischen Kirche der Pfalz kennt im Stichwortverzeichnis zwischen „Sitzungsleitung“ und „Sozialberatung“ keinen „Sonntag“. Auch der „Feiertag“ findet zwischen „Familienbildung“ und „Finanzausgleichsgesetz“ keine Erwähnung. Selbst ein Klassiker unter den Lehrbüchern zum Kirchenrecht wie der „Erler“ registriert im Sachverzeichnis zwischen „Ferdinand I.“ und den „Finanzabteilungen der Kirchen“ keinen „Feiertag“, ebenso wenig zwischen den Lemmata „Sohm, Rudolf“ und „Spiritualien“ den „Sonntag“. Die Literaturliste ließe sich beliebig erweitern. Kein Sonntag in Sicht, und auch kein Feiertag.

Kann der evangelische Kirchenrechtler daher nur Fehlanzeige vermelden? Er wäre dazu geneigt, kommt doch der Sonntag selbst in einer Kirchenverfassung wie der Grundordnung (GO) der Evangelischen Landeskirche in Baden nicht vor. Er wird nur umschrieben. Nach Artikel 9 GO haben die Mitglieder der Kirche „Anspruch darauf, dass ihnen in regelmäßigen öffentlichen Gottesdiensten und aus besonderen Anlässen Gottes Wort verkündigt und das Abendmahl gereicht wird.“ Natürlich meint dies neben den Kasualgottesdiensten („aus besonderen Anlässen“) die Sonntagsgottesdienste („regelmäßige Gottesdienste“). Die Kirchenverfassung der Evangelischen Kirche der Pfalz kennt zwar den Terminus „Sonntagsgottesdienst“, erwähnt ihn aber eher nebenbei: „Die gewählten und berufenen Mitglieder des Presbyteriums […] werden […] in einem Sonntagsgottesdienst in ihr Amt eingeführt.“

Eine normative Vorgabe für die Kirchenmitglieder zur Achtung des Sonn- und Feiertags kennt die evangelische Kirche also nicht, anders als manche Kirchenordnungen der Reformationszeit. Schon die Bekenntnisschriften der Reformatoren befassen sich mit der Frage, was es bedeutet, den „Feiertag zu heiligen“. Luther antwortet im Großen Katechismus: „Nicht so, daß man hinter dem Ofen sitzt und keine grobe Arbeit tut oder einen Kranz aufsetzt und seine besten Kleider anzieht, sondern […] so, daß man Gottes Wort betreibt und sich darin übt.“ Im Zentrum steht demnach das Wort beziehungsweise die Predigt.

Kirchenamtlich hat sich das Bewusstsein erhalten, dass Samstag und Sonntag kein Wochenende bilden. Die Woche beginnt mit dem Tag des Herrn. Daher vermeidet es eine Arbeitsrechtsregelung der badischen Landeskirche, vom Wochenende zu sprechen. Sie setzt den Begriff „Wochenende“ in Klammern, quasi als Verweis auf den säkularen Sprachgebrauch. Die „Arbeitsrechtsregelung für den Dienst an Sonn- und Feiertagen“ nimmt Berufsgruppen wie Gemeindediakoninnen oder Kirchendiener in den Blick und regelt: „Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die regelmäßig wöchentlich […] Sonntagsdienst versehen, erhalten […] zusätzlich zum Jahresurlaub jährlich sechs dienstfreie Samstage und Sonntage (Wochenenden) […].“

Am deutlichsten, jedenfalls in kirchenrechtlicher Perspektive, wird die Beziehung der evangelischen Kirche zum Sonn- und Feiertag in der kirchlichen Lebensordnung, also in jener typisch evangelischen Textgattung, die Sakramentsspendung (Taufe) und Segenshandlung mit den Lebensstationen der Gemeindemitglieder verbindet (Kasualien) und in der Mitte der Gemeinde verankert. Manche Kirchen wie die pfälzische regeln Fragen der Lebensordnung in Spezialgesetzen.

Die Lebensordnung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) aus dem Jahr 2013 erinnert an die „christliche Tradition, an Sonn- und Feiertagen Gottesdienst zu feiern“ und weiß, dass „der sonntägliche Gottesdienst […] heute an vielen Orten möglich (ist)“, also nicht nur in der Parochialgemeinde. In die gleiche gedankliche Richtung geht die Lebensordnung der Lippischen Landeskirche von 2019: „Die christliche Gemeinde feiert wöchentlich, in der Regel sonntags, und an den kirchlichen Feiertagen Gottesdienst.“ Nicht nur „in der Regel“, sondern immer sonntags, so erwartet es die Lebensordnung der UEK: „An allen Sonntagen und kirchlichen Feiertagen werden öffentlich Gottesdienste gefeiert, zu besonderen Anlässen auch an Werktagen.“

Einige Feiertage sind typisch evangelisch wie das Reformationsfest und der Buß- und Bettag. Wie alle kirchlichen Feiertage schützt sie das staatliche Recht, zum Beispiel durch die Feiertagsgesetze (FTG) der Bundesländer. Unmittelbare Gefahr droht dem Status quo also nicht von der Politik. Gefahr droht vielmehr durch den gesellschaftlichen Wandel, vor allem durch Desinteresse am Charakter der Feiertage, aber auch durch gezielte Provokationen („Heidenspaß-Party“ an Karfreitag in München).

Zugleich sind die Kirchen aufgefordert, auch ihrerseits das hohe Gut, welches für den Einzelnen wie für die Gesellschaft im Sonn- und Feiertag liegt, wertzuschätzen. Kirchliche Basare an Sonntagen im Anschluss an den Gottesdienst zu veranstalten, sollte aus diesem Grund ein „No-Go“ sein. Wer den Sonntag als den Tag des Herrn, der Vollendung der Schöpfung wie der Auferstehung, feiert, muss eindeutig auftreten.

Einen ambivalenten Eindruck hinterlässt deshalb die Internet-Werbung einer Berliner Kirchengemeinde: „Der jährliche Basar am 1. Advent bildet den Höhepunkt unserer Gemeindefeste […]. Der Gottesdienst beginnt um 10 Uhr in der einem Kaufhaus ähnlichen Kirche. […] Bis 16 Uhr geht der Verkauf, das Staunen und Schauen […].“ Das Internetfoto zeigt einen Kirchenraum, der mit Trödelständen vollgestopft ist. Ob der Bericht von Jesus und den Händlern im Tempel nicht mehr präsent war? Zwar dient der Erlös sozialen Zwecken, aber der beschriebene Event im Advent hat ein ganz eigenes Warten auf etwas Kommendes – adveniat – zum Gegenstand: Erwartet wird der Kaufrausch. Also ein typisches Marktgeschehen, wie es den Werktag prägt.

Das Handeln der Kirche darf ihre Rede nicht konterkarieren. Der weltliche Sonntagsschutz kommt ohne christliche Sonntagsheiligung nicht aus. Das kirchliche Recht vermag daran zu erinnern. Es kann mit seinen theologischen Grundlagen und historischen Traditionen auch etwas zur Diskussion beitragen, die gegenwärtig in der evangelischen Kirche geführt wird, ob nämlich der „Abschied vom Sonntagsgottesdienst“ anstehe. Führt die Empfehlung der EKD, „über den Fortbestand des Sonntagsgottesdienstes offen zu diskutieren“, in die falsche Richtung?

Aus meiner Sicht ist der Sonntag für die Kirche unverzichtbar. Der Rhythmus einer vom Sonntag strukturierten Woche, eines vom Kirchenjahr begleiteten Kalenders, eines Lebens, das nicht „atemlos durch die Nacht“ und durch den Tag irrt, eines christlichen Lebens, das vielmehr auf gelassene Weise warten kann – etwa im Advent –, eines Lebens, das freiwillig auf unbekömmliche Fülle verzichten kann – etwa in der Fastenzeit –, ein Leben, das weiß, dass es sich nicht selbst heiligen kann, das alles braucht als seelisches Erlebnis- und Gravitationszentrum den Sonntag und den kirchlichen Feiertag. Es braucht eine „zyklische Ladestation“ in der christlichen Gemeinschaft, die nun einmal nicht täglich zusammenkommen kann.

Darum stehen der evangelischen Kirche Kampagnen zur Wertschätzung des Sonntags – „Gott sei Dank, es ist Sonntag“ oder „Ohne Sonntag gibt es nur noch Werktage“ – gut an. Wer den Sonntag als Schutzgut für die arbeitende Bevölkerung verteidigt („Ruhetag“), ihn aber nicht selbst als Tag des Herrn lebt, wird der Welt kein „Salz“ im Sinne des Matthäusevangeliums bieten.

Prof. Dr. Uwe Kai Jacobs ist Kirchenjurist in der badischen Landeskirche und Honorarprofessor an der Universität Mainz. Der Beitrag erschien im „Pfälzischen Pfarrerblatt“ 4/2020.

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