Die Dokumentation: Das Anderssein der anderen

Frage nach der Gerechtigkeit Gottes – Die Bibel zeigt ein schlechtes Menschenbild • von Helmut Frank

Der Brudermord: Emporenmalerei in der evangelischen Kirche St. Martin von Mihla an der Werra in Thüringen. Foto: epd

 In vielen biblischen Geschichten erscheint Gott ungerecht. Ist Fairness keine göttliche Eigenschaft? Schon die Geschichte von Kain und Abel wirft Fragen auf.

Von Beginn an zeichnet die Bibel ein schlechtes Bild des Menschen. Die Urgeschichte in den ersten Kapiteln ab 1. Mose 3 kann man auch als Eskalation der Auflehnung gegen Gott lesen. Dem Sündenfall, „sein zu wollen wie Gott“, mit der Vertreibung aus dem Paradies folgt der erste Brudermord. Vom ersten Menschenpaar weitet sich die Sünde auf die Familie und schließlich auf die gesamte Menschheit aus. Die Sintflut ist Gottes Antwort auf die Bösartigkeit der Welt.

Aber auch das überlieferte Gottesbild wirft Fragen auf: Warum erschafft er einen so unvollkommenen Menschen, warum führt Gott Kriege, warum befiehlt er Grausamkeiten, warum verblendet, verstockt und bestraft er Menschen wann und wo er will? Bereits die Geschichte von Kain und Abel in 1. Mose 4 wirft die Frage auf: Ist Gott ungerecht? Warum wird Abels Tieropfer angenommen, und warum wird Kains Opfer von seinen Feldfrüchten nicht angenommen? Sollte die Geschichte vielleicht nicht besser als Ausgangspunkt der Ungerechtigkeit in der Welt verstanden werden?

„Abel ward ein Schäfer, Kain aber ward ein Ackermann“, heißt es in 1. Mose 4 lapidar. In diesem zweigliedrigen Satz ist der Konflikt vorprogrammiert, der hernach folgt und der sich im Laufe der Menschheitsgeschichte in millionenfacher Neuauflage wiederholt. Menschen halten es nicht aus, dass andere Menschen anders sind. „A war Nomade, B aber war Bewohner des Kulturlands.“ – „C kam vom Dorf, D aber war Bürger der Stadt.“ – „E war Eingeborener, F aber war Einwanderer.“ – „G war Deutscher, H aber war Ausländer.“ – „I war Palästinenser, J aber war Jude.“ Wie die Konflikte auch immer heißen mögen, alle beginnen sie damit, dass Menschen das Anderssein anderer nicht aushalten, und allemal suchen sie gewaltsame Lösungen für dieses Problem.

So gesehen sind Kain und Abel wie so oft in der Bibel keine historischen Figuren. Sie müssen nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt der Weltgeschichte nachweisbar gelebt haben, damit die Geschichte „wahr“ ist. Kain und Abel sind „Mensch an sich“, „typisch Mensch“. Die Geschichte ist wahr, weil sie damals geschehen konnte, wie sie heute geschieht: die Geschichte von Kain und Abel. Ein Minimum an Wörtern. Keine schmückenden Beigaben. Keine Adjektive. Keine Nebensätze. Der unbekannte Autor dieser und anderer Urgeschichten aus dem Buch 1. Mose beherrscht die hohe Kunst der kurzen Sätze. Holzschnittartig sind seine Figuren. Mithilfe solcher scharf geschnittener Figuren kommt er auf die markantesten Probleme des Menschen, ja der Menschheit zu sprechen.

So wie bei Kain und Abel, so ist es mit den Menschen. Zwischen den Zeilen aber bleibt viel freier Raum, den Vorgängen nachzudenken und sie zu deuten. „Und der Herr sah gnädig an Abel und sein Opfer, aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an.“ Noch so ein Satz. Auch ohne Erläuterungen, ohne theologische Anmerkungen, ohne psychologische Erklärungen. Wieder kann der Leser zwischen die Zeilen des Satzes eigene Deutungen hinein- und herauslesen. Der Satz ist und bleibt trotzdem ein Rätsel. Und Gott ist in diesem Satz ein Rätsel, und er bleibt es bis zum heutigen Tage.

Ein dunkler, rätselhafter Gott, den alle Erklärungsversuche nicht verständlicher machen. „Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig“, heißt es etliche Kapitel weiter in 2. Mose 33, und damit: „Wem ich nicht gnädig bin, dem bin ich nicht gnädig.“ Gott ist, der er ist. Punktum. „Ich bin, der ich bin“, heißt es in 2. Mose 3. Und es folgt daraus auch für die unverständlichen Vorgänge unseres Lebens: Es ist, wie es ist. Rätselhaft. Heute könnte es etwa heißen: „A führte ein wüstes Leben und starb in hohem Alter einen sanften friedlichen Tod. B aber lebte sein Leben sorgfältig und musste in jungen Jahren nach langem Leiden qualvoll sterben.“

Im Falle von Kain und Abel bietet die Bibel auch keine moralische Verstehenshilfe. Nichts ist erwähnt, was auf eine wie immer geartete Schuld im Vorleben des Kain hinweist. Das wäre die einleuchtendste Lösung. Er muss ja wohl irgendetwas Unrechtes getan haben. Hat er aber nicht. Sonst stünde es da. Zu unserer Entlastung beim Rätseln. Zur Entlastung Gottes, den wir doch gerne gegen den Vorwurf, er sei ungerecht, in Schutz nähmen.

Im Grunde enthält die Geschichte von Kain und Abel eine Variation über die Frage, die sich schon in der Geschichte vom Sündenfall stellt. Die unge­löste Frage, wie das Böse in die Welt kam. Wenn doch Gott gut ist und seine Schöpfung gut ist. „Und Gott sah, dass es gut war“, heißt es mehrfach in der Schöpfungsgeschichte. Aber es gibt auf die Frage nach der Herkunft des Bösen keine schlüssigen Antworten. Die Schlange aus der Geschichte vom Sündenfall wird erst von späteren Generationen mit dem Teufel identifiziert. Die Figur des Satans, zunächst als Diener, später als Gegenspieler Gottes, taucht erst in späteren Texten des Alten Testaments auf.

Im Urgestein der biblischen Überlieferung überrascht freilich eine Aussage beim Propheten Amos im 3. Kapitel, wenn auch in völlig anderer Situation gesprochen: „Ist auch ein Unglück in der Stadt, das der Herr nicht tue?“ Es muss demnach Zeiten gegeben haben, in denen unsere Vorväter im Glauben auch das Böse aus der Hand Gottes zu nehmen wussten. Eine logische Erklärung für die Annahme des einen und die Ablehnung des anderen Opfers gibt es nicht. Der rätselhafte Gott dieser Geschichte bleibt rätselhaft.

Die Frage nach Gottes Gerechtigkeit wird – eigentlich unerhört! – in der Bibel immer wieder thematisiert. Hiobs nicht allzu mitfühlender Freund Bildad glaubte, dass Gott fair handelte, indem er seinen Diener Hiob strafte, und dass er für ein rechtschaffenes Leben fairen Lohn geben würde (Hiob 8, 1–7). Der Prophet Habakuk stellte Gottes „Fairness“ infrage, als Gott die bösen Chaldäer dazu gebrauchte, die Rechtschaffeneren zu strafen (Habakuk 1, 12–13).

Warum ist Gott in unseren Augen unfair, vielleicht sogar blind oder taub unseren täglichen Anstrengungen gegenüber? Die Israeliten schrien zu ihm in ihrer Knechtschaft in Ägypten. Der treue Hiob erlitt den Verlust seines Besitzes, seiner Familie, seiner Gesundheit – mit Gottes Zustimmung.

Wie Gottes „Fairness“ zu verstehen ist, wird in Jesu Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg deutlich. Die Arbeiter, die den ganzen Tag arbeiteten, erhielten den gleichen Lohn wie die, die nur die letzte Stunde arbeiteten (Matthäus 20, 1–13). Einige der Arbeiter beklagten sich über diese schwer erträgliche „Ungerechtigkeit“. Jesus erwiderte: „Genauso ist es bei Gott: Viele, die jetzt die Ersten sind, werden die Letzten sein, und die, die jetzt die Letzten sind, werden dann die Ersten sein“ (Matthäus 20, 16). Die Gerechtigkeit sieht aus dem Blickwinkel des himmlischen Königreichs etwas anders aus als aus dem irdischen Blickwinkel.

Die Auflösung der Frage nach der Gerechtigkeit Gottes liegt im Leiden und Sterben Jesu. Schaut man auf die Passionsgeschichte, ist es schlicht unfair, dass mit Jesus ein unschuldiger Mensch sterben musste (Markus 15, 7). Es war nicht „fair“, dass der Aufrührer und Mörder Barabbas begnadigt wurde, während Jesus, der Sohn Gottes, unschuldig und ohne Sünde hingerichtet wurde. Dass Jesus sein Leben lassen musste, war nicht fair – dass er aber sein Leben am Ende für alle hingab, war Gnade.

Helmut Frank ist Chefredakteur der evangelischen Wochenzeitung „Sonntagsblatt“, das in München erscheint.

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