Die Zahlen der Austritte aus der evangelischen und der katholischen Kirche, die wir kürzlich veröffentlicht haben, sind bitter und herausfordernd zugleich. 542000 Menschen haben die beiden großen Kirchen in Deutschland 2019 verlassen. In der Pfalz und Saarpfalz kehrten im letzten Jahr 5838 Personen unserer Landeskirche den Rücken, das sind 1,18 Prozent ihrer Mitglieder.
Dabei nehmen viele die Arbeit der Kirche wahr; ihr diakonisches Engagement, auch das Engagement der Kirchengemeinden vor Ort. Sehen darin aber keinen Grund, der Kirche in ihrer institutionellen Gestalt weiter anzugehören. Anderen ist oftmals gar nicht bewusst, wie vielfältig die Kirchen in unserer Gesellschaft eingebunden und wirksam sind. Offenbar erkennen immer mehr Menschen für sich persönlich keinen Nutzen, in der Kirche zu bleiben.
Dies ist eine ungeheure geistliche Herausforderung. Monokausale Erklärungen helfen hier ebenso wenig weiter, wie vorschnelle Schuldzuweisungen. Die eigentliche Frage ist doch, ob wir in der Lage sind, mit unserer Botschaft und dem Zeugnis unseres Lebens den zunehmenden Sog des Vergessens Gottes in unserer Gesellschaft zu unterbrechen oder gar aufzuhalten. Wenn es überhaupt dazu kommt, wird es lange dauern. Denn die, die der Kirche und dem Glauben in großer Zahl verloren gegangen sind, werden nur je einzeln zurück zu gewinnen sein.
Der Glaube an Gott ist das Intimste, was einen Menschen betrifft. In ihm steht jede Person in ihrer Ganzheit bis in die verborgensten Tiefen hinein vor Gott – und nie bloß als ein Fall unter vielen. Darum kann sich auch nur in der persönlichen Begegnung mit den Menschen, indem sie in ihrer Besonderheit und ihrer eigenen Lebensgeschichte ernst genommen werden, ein Raum für den Glauben öffnen. Er entsteht, wenn überhaupt, im unmittelbaren Kontakt mit Gottes Wort durch andere Menschen, für die ihr Glaube Halt ist, tragfähiger, verlässlicher Grund ihrer Existenz, Hilfe für ein menschliches und wahrhaftiges Leben.
Dadurch können die, für die „Gott“ ein Fremdwort geworden ist, merken, dass dieses Wort die Chance eröffnet, Anderes, Wesentlicheres zu sehen, zu entdecken, was das Geheimnis und die Auszeichnung ihres besonderen Lebens ausmacht, als es ohne dieses Wort möglich ist. Alles liegt also daran, dass unser Reden von Gott nicht abseits des Wirklichkeitsempfindens von Menschen unserer Zeit angesiedelt ist; nicht über es hinweggeht oder unter ihm versinkt.
Ein sensibles Hinhören auf die Äußerungen von Menschen über sich selbst, das auch Zwischentöne und Unterdrücktes wahrzunehmen und auszuhalten vermag, gehört darum unabdingbar zu einem Reden von Gott, das heute mit Gott vertraut machen möchte. Denn Gottes Wort und alles Grundmenschliche gehören von ihrem Ursprung her zusammen. Weil Gott Anwalt eines menschlichen Lebens ist, sein Dasein unser Dasein erhellt, den Horizont weitet und Menschen aufrichtet; ihnen Beistand verleiht – besonders in den Krisen und Abgründen des Lebens. Das gilt es zu bezeugen.
Damit bekommt das in der Reformation wiederentdeckte „Priestertum aller Glaubenden“ ein neues Gewicht. Denn wenn dem Glauben entfremdete Menschen – vor allem durch unmittelbare, persönliche Begegnungen – mit dem Glauben bekannt und vielleicht sogar mit ihm vertraut werden, dann gewinnt die Verantwortlichkeit der Glaubenden in ihrem privaten Umfeld sowie in ihrer Berufs- und Freizeitwelt eine gar nicht hoch genug zu veranschlagende Bedeutung. Unser Christsein selbst ist dann der Artikulationsort für Gott! Wo die, die Gott vergessen haben, von ihm hören – und dabei entdecken können, wie sich Sprachräume für Gott zu Lebensräumen von und für Menschen weiten.
Niemand von uns würde heute glauben, wenn Gottes Kommen zu uns in der ersten Christenheit im toten Winkel eines stummen Glaubens versickert wäre. Und niemand wird morgen glauben, wenn Gottes Kommen bei uns in die Sackgasse eines sprachlosen Glaubens gerät. Glaube hat immer das konkrete Leben einer Gemeinschaft, einer Erzählgemeinschaft, der Kirche also als Ort der Mitteilung und der Kommunikation des Evangeliums, zur Voraussetzung. Christlicher Glaube fällt weder unmittelbar vom Himmel noch bildet er sich frei schwebend im leeren Raum. Vielmehr verdankt er sich in seinem Werden und Bestehen immer einem Traditionszusammenhang, der in der Kirche lebendig ist und dort auf vielfache Weise dargestellt, in Bildern und Erzählungen, in Gebeten und Liedern ausgesagt – und dann auch selbst verantwortet wird.
Glauben heißt, den Glauben nicht verbergen, sondern Gesicht zeigen: Gesicht und seine Lebenskonturen! Mitteilen, was mir in meinem Leben wichtig geworden ist. Auch, was Anderen vor und neben mir Halt und Trost war und Hoffnung schenkt.
„Ich glaube, darum rede ich“, dieses Wort des Apostels Paulus aus dem 2. Korintherbrief (4, 13) ist mithin der selbstbewusste Ausdruck für eine große Verantwortung, die jedem Menschen mit dem Glauben an Gott in Jesus Christus zuwächst. Und sie wird wahrgenommen, wie das Anstimmen eines Tones, der Menschen einfühlsam und mit langem Atem einlädt, in ihn einzustimmen. Diese Wegbereitung und schrittweise Öffnung setzt der eigentlichen Gotteskrise, nämlich dem Vergessen Gottes, die Gewissheit entgegen, dass Gott jedenfalls keinen Menschen vergisst!
Erzwingen lässt sich das Einstimmen in diese Gewissheit nicht. Dass es zum Glauben kommt, ist für menschliches Handeln unverfügbar. Der Glaube stellt sich nur in der Freiheit ein, in der Gott kraft seines Geistes selbst begegnet. Aber diesem freien Begegnen Gottes bei den Menschen Pfade zu ebnen, dass die Gründe, Gott zu vergessen, brüchig werden, damit sollten wir als Christinnen und Christen umso entschlossener anfangen.
„Was ich euch ins Ohr gesagt habe, redet von den Dächern“, sagt Jesus den Seinen (Matthäus 10, 27). Das meint öffentliches Reden aus Glauben. Von Gott werden wir sprechen im Hören auf sein Wort und den Menschen zu Nutzen. Und indem wir von Gott sprechen, reden wir von der Welt – und in der Welt. Reden wir angesichts der Ängste, der Sorgen, der Polarisierung in unserer Gesellschaft.
Und zwar als die, die eine Vorstellung haben von guter und gerechter Zukunft. Die Worte haben, wo es Anderen die Sprache verschlägt und den Mut verhagelt. Die das Feld nicht denen überlassen, die Hass säen und Ängste verstärken; die spalten, vereinfachen, lügen. Sondern die der Wahrheit zum Recht verhelfen, die allein frei macht. Nie tun wir das als politische Partei, wohl aber als Partei für die Menschen!
Darum ist christlicher Glaube nicht Privatsache, sondern eine öffentliche Angelegenheit. Es ist nicht nur eine Frage der Moral, sondern des Glaubens oder der Glaubensverleugnung, ob Gott im hungernden Kind erkannt und getröstet wird – oder nicht; ob er in den Fremden beherbergt – oder aus dem Land gestoßen; ob er in den Kranken versorgt und gepflegt – oder übersehen wird. Gott hat sich in Jesus Christus verborgen unter der Maske der Bedürftigen: der Hungernden und Durstigen, der Fremden und Nackten, der Kranken und Gefangenen, der Toten (vgl. Matthäus 25, 31–40). Deshalb sind Gerechtigkeit, Erbarmen und Gotteserkenntnis untrennbar miteinander verbunden.
So, ganz und gar weltlich, von Gottes Zuwendung und Gegenwart zu sprechen – zuweilen auch mit den Verstummten die Stille auszuhalten –, kann der Ort sein, wo das Wort „Gott“ bei Menschen, die Gott vergessen haben, zu haften beginnt – und sich um diesen Haftpunkt herum ein neuer Lebensraum entfaltet.
Solche Orte zu ermöglichen, dazu braucht es die Kirche: als Verantwortungsgemeinschaft zur Weitergabe des christlichen Glaubens und als Raum, in dem Barmherzigkeit, Güte und Vergebung immer von Neuem eingeübt werden. Jeder Tag, jeder Augenblick, jeder Moment bietet uns so die Gelegenheit, Menschen die Lebensdienlichkeit des Wortes Gottes nahezubringen.
Dr. h. c. Christian Schad ist Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche der Pfalz (Protestantische Landeskirche).