Zwischen Zeitgeist und Heiligem Geist

von Gerd-Matthias Hoeffchen

Gerd-Matthias Hoeffchen

Wenn über die Kirche gesprochen wird, ist oft vom Geist die Rede. Nicht nur vom Heiligen Geist. Auch vom Zeitgeist. Nicht selten geschieht dies vorwurfsvoll: Die Kirche mische sich zu sehr in die Politik ein; und dann vertrete sie auch noch zu sehr neumodische Positionen. Das ist interessant. Denn auf der anderen Seite hat die Kirche – die katholische noch etwas mehr, die evangelische aber auch – ja bei vielen den Ruf, angestaubt und rückwärtsgewandt zu sein.

Was ist also dran an dem Vorwurf, vor allem die evangelische Kirche unterwerfe sich zu stark dem Zeitgeist? Wahr ist: Jeder Mensch und jede Gruppe sind Kinder ihrer Zeit. Ideen und Gedanken, mit denen man aufwächst, prägen einen, natürlich. Und dementsprechend neigt jede und jeder eben auch dazu, die Dinge für richtig zu halten, die alle anderen – oder zumindest die meisten – in der Umgebung für wahr und richtig halten.

Gut zu sehen ist das zum Beispiel bei der Vorstellung von Ehe und Familie. Noch unsere Eltern dachten über Scheidung oder alleinerziehende Eltern anders als wir, auch in der Kirche. Oder Thema Demokratie: Was für uns heute selbstverständliche Grundlage von Gesellschaft und Politik ist, musste – auch in der Kirche – noch vor wenigen Jahrzehnten begründet und gerechtfertigt werden. Eine Obrigkeit, die für alle anderen entscheidet – das galt über Jahrtausende als Leitbild menschlicher Zivilisation. Und was ist der Zeitgeist jetzt, im ­Moment? So leicht ist das nicht zu beantworten. Plastikmüll, Klima, Populismus, Spaltung der Gesellschaft, Flüchtlingsfrage: Wie „tickt“ die Gesellschaft zurzeit? Das muss ausgehandelt werden. Regeln, Ideale, Ge- und Verbote. Was gelten soll, das muss eine Gesellschaft immer wieder neu bestimmen. In jeder Generation. Eine Gesellschaft muss ringen, damit es weitergeht.

Es ist ein ständiger Balanceakt. Auf der einen Seite die Gefahr, am Alten festzuhalten und alles Neue zu verteufeln. Auf der anderen Seite der Drang, aus Prinzip nach vorne zu stürmen und das, was bisher galt, gering zu schätzen oder gar zu verachten. Das ist eine große Herausforderung. Die Kirche, die Menschen, die sich in ihr zusammenfinden, sind Teil davon. Aber sie dürfen vertrauen. Dass es gut ist, an diesem Ringen teilzuhaben. Mitzumachen. Keine Angst davor zu haben. Von Anfang an steht in der Bibel die Zusage Gottes: Ich bin bei dir bei deinem Weg in die Zukunft.

Gott hat den Menschen gesagt: Ich begleite dich, wenn du aufbrichst ins Gelobte Land. Ich gebe dir mein Wort. Gottes Wort – das ist ewige Wahrheit. Und wie die heute aussieht? Brexit? Trump? Gen-Technik? Kirchensteuer? Pflegeversicherung? Das müssen wir herausfinden. Im Gebet. Im Hören. In der Auseinandersetzung, in der Analyse und im Abwägen von Fakten, Meinungen, Ängsten und Hoffnungen. Heiliger Geist und Zeitgeist: Das müssen keine Gegensätze sein.

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