Zivilisation wird nur noch simuliert

von Klaus Koch

Klaus Koch

Längst müsste Frieden herrschen auf der Welt, Hunger und Armut besiegt sein, jeder Mensch Zugang zu Bildung und umfassender Gesundheitsversorgung haben. Diesen Eindruck jedenfalls vermitteln seit Jahrzehnten weltweit die Programme und Aussagen der Parteien und Politiker. Eine riesige Mehrheit steht hinter diesen Zielen. Doch sie werden nicht erreicht. Der Fortschritt ist eine Schnecke. Ernst zu nehmende Politiker räumen dies in nachdenklichen Momenten ein. Doch vor Wahlen gehen sie dennoch immer wieder in die Vollen.

So ist es auch vor der Europawahl. Dem Leser der Wahlprogramme deutscher Parteien entfaltet sich ein prachtvolles Bild: Die EU wird eine Friedensmacht, die in Entwicklungsländern nachhaltig Fluchtursachen bekämpft, große Konzerne angemessen besteuert, die sozialen Verhältnisse ebenso verbessert wie die Arbeitnehmerrechte. Und auch dem Klimawandel wird schon ganz bange. Natürlich wissen Wahlkämpfer und Wähler, dass das alles so nicht kommt. Es wäre ja schon viel gewonnen, wenn die von Populisten und Autokraten gefährdete Gemeinschaft in den nächsten Jahren nicht noch mehr vor die Hunde ginge. Doch mit dieser Minimalforderung ist kein Wahlkampf zu machen.

So entsteht, was der aus Bulgarien stammende Schriftsteller Ilija Trojanow eine verselbstständigte Rhetorik nennt. Sie befriedigt das moralische Bedürfnis nach Gerechtigkeit und vermittelt den Menschen das Gefühl, in einer zivilisierten Gesellschaft zu leben. Gleichzeitig geschehen so unfassbar unzivilisierte Dinge wie Krieg, weltweite Ausbeutung und Umweltzerstörung einfach weiter. Prob­leme werden nicht gelöst, ihre Lösung nur raffiniert simuliert. Glaubwürdigkeit erhält das politische System so nicht zurück.

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