Wortneuschöpfungen manipulieren Menschen

von Wolfgang Weissgerber

Wolfgang Weissgerber

„Das Sein bestimmt das Bewusstsein“, hat Karl Marx einst konstatiert. Das bedeutet: Der Platz eines Menschen in der Gesellschaft bestimmt sein Denken. Niemand wird bezweifeln, dass der Industriellensohn die Welt anders erlebt als eine alleinerziehende Mutter. Aber es ist nicht das Sein allein. Auch die Sprache hat Einfluss darauf, wie ein Mensch die Welt wahrnimmt.

Das ist fatal. Schon durch die bloße Wortwahl können Menschen manipuliert werden. Das geschieht auch im politischen Diskurs und hat, zum Beispiel im Ringen um den Umgang mit Asylbewerbern, zu einem makabren Wettstreit der Manipulateure geführt.

Aktuell dreht sich die Debatte um die Frage, ob und wo Flüchtlinge bis zur Entscheidung über ihren Asylantrag untergebracht werden. Dieser Gedanke wird diskreditiert, wenn es heißt, sie würden dort „zusammengepfercht“. Nennt man diese Unterkünfte auch noch „Kontroll­zent­ren“, sind sie durch die negative Konnotation ihrer Abkürzung KZ so gut wie erledigt.

Andere Wortschöpfungen aus der Flüchtlingsdebatte haben keine sofort erkennbaren politischen Implikationen. Sie dokumentieren lediglich die technokratische Kälte des Verwaltungsapparats. Begriffe wie Anker­zent­ren oder Ausschiffungsplattform sind aber auch ohne böse Hintergedanken geeignet, die Entmenschlichung der Debatte zu befördern. Sie machen unsichtbar, was gerade geschieht.

Die politische Rechte in Deutschland beherrscht die Klaviatur der verbalen Manipulation ohnehin weitaus virtuoser als die kleine Schar von „Gutmenschen“, die sich für die Rechte von Flüchtlingen einsetzt. „Gutmensch“ ist übrigens auch so ein Schlagwort, das den Einsatz für Menschlichkeit und Gerechtigkeit unter den Generalverdacht von Naivität und Ahnungslosigkeit stellt.

Worte wie Flüchtlingsstrom und Flüchtlingswelle lenken davon ab, dass es sich um Menschen mit individuellen Schicksalen handelt. Welle und Strom sind Naturereignisse mit tendenziell bedrohlichem Charakter. Im Alltag haben sich beide Begriffe eingenistet: Wir reden nicht über Menschen, sondern über die vermeintliche Bedrohung, die von ihnen ausgeht.

Wie tief ein fragwürdiger oder gar falscher Begriff in unser Denken eindringt, zeigen die Ereignisse des Spätsommers 2015. Da begann – genau! – der Flüchtlingsstrom. Und Merkel beging angeblich einen Rechtsbruch, indem sie die „Grenzöffnung“ anordnete. Dieser Begriff geistert seitdem durch die Debatte, obwohl es gar keine Grenzöffnung gab. Seit fast 20 Jahren sind die Grenzen in Deutschland offen. Innerhalb der Europäischen Union gibt es keine Grenz­kont­rol­len mehr, nur an ihren Außengrenzen. Daher hatte die Kanzlerin lediglich darauf verzichtet, was angesichts der großen Zahl von Menschen sowieso unmöglich war: sofort festzustellen, ob einer der Flüchtlinge bereits in einem anderen EU-Land einen Asylantrag gestellt hat oder hätte stellen können.

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