Wenn sich Gewalt in den Medien spiegelt

von Gerd-Matthias Hoeffchen

Gerd-Matthias Hoeffchen

Manchmal setzt einem schier der Verstand aus: Ein Schüler ersticht einen anderen – nach bisherigen Erkenntnissen ohne einen auch nur halbwegs nachvollziehbaren Grund. Das, was da an einer Gesamtschule in Lünen passiert ist, verstört. Die Menschen reagieren mit Entsetzen. Trauer. Wut. Sie suchen Zuflucht und Trost in den Worten der Seelsorger. Aber auch die können erst mal vor allem nur eines tun: zuhören. Zurück bleibt Ratlosigkeit: Was tun? Was tun, um derartige Tragödien in Zukunft zu vermeiden?

Viele rufen jetzt wieder nach mehr Härte. Das ist verständlich, ein nachvollziehbarer Reflex. Sie verweisen auf die USA, wo die Strafen härter sind, jugendliche Straftäter in Disziplinierungs-Camps auf den richtigen Weg gebracht werden sollen. Was dabei leicht übersehen wird: Die USA haben trotzdem ein sehr viel größeres Gewaltproblem als wir hierzulande.

Es klingt absurd, gerade angesichts einer Tragödie wie in Lünen. Aber die Statistik ist eindeutig: Die Jugendkriminalität in Deutschland ist in den vergangenen Jahren um die Hälfte zurückgegangen, nämlich von 2007 bis 2015 um 50,4 Prozent. Und auch das Klischee „auch wir haben uns früher gezofft, aber aufgehört, wenn der andere am Boden lag“ kann so nicht stehen bleiben: Laut einer Studie aus Bayern nahm auch die Brutalität bei Straftaten ab. Dass das in der allgemeinen Wahrnehmung ganz anders aussehen mag, liegt vermutlich schlicht an der zunehmenden Fokussierung der Medien und sozialen Netzwerke auf Gewalttaten.

Zwei Gründe nennen die Forscher für die zurückgehende Gewalt. Zum einen die gesunkene Jugendarbeitslosigkeit. Und vor allem: weniger Gewalt in den Familien. Hier, so die Analyse der Wissenschaftler, liege ein entscheidender Punkt. Wer früh mit Gewalt konfrontiert wird, neigt später deutlich stärker zur eigenen Gewaltausübung. Das spricht nicht gegen Konsequenz und klare Regeln in der Erziehung. Aber: Um Gewalttaten möglichst zu verhindern, wäre demnach also gerade nicht mehr Härte erforderlich, sondern noch stärker das Einüben gewaltloser Wege, um Konflikte zu lösen. Hier müsste man mehr tun, in Schule und Familie.

Was dabei verstört, ist, dass in Lünen die Verantwortlichen ja offenbar alles versucht hatten, um die Dinge auf diese Art anzugehen. Die Schule gilt als vorbildlich im erzieherischen Umgang mit jungen Menschen. Die Tat ereignete sich auf dem Weg zur Schulpsychologin. Eine Garantie dafür, dass man Gewalttaten verhindern kann, gibt es nicht. Trotzdem bleibt die Pflicht, alles dafür zu tun, was in der Verantwortung der Menschen steht. Und dazu zählt auch, klaren Kopf zu bewahren. Trauer, Erschrecken und Ratlosigkeit haben ihren Ort. Aber sie dürfen nicht dazu führen, in die falsche Richtung umzusteuern.

Der Autor ist Chefredakteur der evangelischen Wochenzeitung „Unsere Kirche“, die in Bielefeld erscheint.

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