Volkskirche gibt es auch als Minderheit

von Klaus Koch

Klaus Koch

In der deutschen Politik tobte in den 1970er Jahren der Kampf um Begriffe. CDU-Generalsekretär Kurt Biedenkopf hatte seine Partei aufgefordert, Begriffe zu besetzen. Es ging ihm darum, bestimmte Sachverhalte so zu benennen und mit Inhalt aufzuladen, dass sie bei den Wählern positiv mit der Partei verbunden werden. Die CDU setzte zu diesem Zwecke sogar eine parteiinterne „Projektgruppe Semantik“ ein. Beispiele für solche Begriffsbesetzungen sind etwa Heiner Geißlers „Neue Soziale Frage“, die der SPD die Kompetenz in der Sozialpolitik streitig machen sollte. Ebenfalls in den 1970ern erfand der SPD-Politiker Erhard Eppler den Begriff „wertkonservativ“, womit er seine Forderungen zum Umweltschutz sowie für eine humane und solidarische Gesellschaft für CDU-Wähler attraktiv machen wollte.

Entscheidend in der öffentlichen Auseinandersetzung ist also nicht in erster Linie, was ein Begriff konkret bedeutet, sondern welche Inhalte und Aussagen die Menschen damit verbinden. Und genau da haben die Kirchen ein Problem mit ihrer Selbstbezeichnung als Volkskirchen. Die meisten Menschen verbinden damit eine Kirche, der eine große Mehrheit aller gesellschaftlichen Schichten angehört. Wird diese Sicht von Volkskirche mit den Mitgliederstatistiken, der Anzahl der Taufen oder gar mit der Beteiligung am normalen Sonntagsgottesdienst in Beziehung gesetzt, ist das kirchliche Glaubwürdigkeitsproblem offensichtlich.

Allerdings gibt es noch mindestens drei weitere Möglichkeiten, den Begriff Volkskirche zu interpretieren. ­Etwa als Gegensatz zur Pfarrerkirche. Als Kirche also, in der alle Gemeindemitglieder Verantwortung tragen und entscheiden. Oder eine Kirche im ­Gegensatz zur Dogmenkirche, die sich weniger an festen Lehrsätzen ­orientiert, sondern Impulse aus der Gesellschaft, in der sie wirkt, aufnimmt. Und als drittes und wich­tigstes Modell die Volkskirche als ­Abgrenzung zur Kirche im frommen Winkel der Gesellschaft, die als heiliger Rest selbstgenügsam auf den Jüngsten Tag wartet.

Diese dritte Definition von Volkskirche nimmt den Missionsbefehl aus dem Matthäusevangelium auf, wonach Christen zu allen Völkern gesandt sind. Sie wirken, unabhängig von ihrer Zahl, in alle gesellschaftlichen Bereiche hinein: missionarisch, diakonisch, seelsorgerlich, sozial und pädagogisch. Letztlich ist es diese Vorstellung, die heutige Kirchenvertreter meinen, wenn sie an dem Begriff der Volkskirche festhalten wollen. Und die kleiner und ärmer werdende Kirche wird merken, wann sie den Begriff mit dieser Bedeutung besetzt hat. Nämlich dann, wenn die Gesellschaft damit nicht leere Kirchenbänke in Verbindung bringt, sondern engagierte und zugewandte Christenmenschen in der Nachbarschaft. In diesem Falle würde der Begriff Volkskirche zumindest so lange taugen, bis jemandem ein besserer einfällt.

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