Schritte heraus aus dem Teufelskreis

von Florian Riesterer

Florian Riesterer

Wir schreiben das Jahr 1919. Viele Menschen leiden noch immer unter den Folgen des Ersten Weltkriegs. Besonders groß ist die soziale Not bei Kriegswaisen und -witwen. So groß, dass sich auch Papst Benedikt XV. zu Wort meldet. In seiner „Enzyklika Paterno iam diu“ beklagt er am 24. November 1919 die Not von Kindern in Zentraleuropa; und ordnet das Sammeln von Geld- oder Sachspenden an.

Genau 100 Jahre später haben große Teile Europas eine noch nie gekannte Zeit des Friedens hinter sich. Kinderarmut aber gibt es nach wie vor. Und so starten in der Vorweihnachtszeit nicht nur etliche Hilfsaktionen für Kinder in Ost- und Südosteuropa, sondern auch für Kinder hierzulande. Fast 900000 Familien in Deutschland mit Kindern können sich keine regelmäßigen ausgewogenen Mahlzeiten leisten. Rund 800000 Kinder und Jugendliche müssen in Wohnungen leben, die nicht richtig beheizt werden, über 1,2 Millionen Kinder leben in Familien, die kaum mehr die Miete zahlen können, erklärt das Deutsche Kinderhilfswerk. Besonders betroffen sind laut der jüngsten Studie der Bertelsmannstiftung Kinder alleinerziehender oder gering qualifizierter Eltern. Für rund ein Fünftel aller Kinder ist die Armut eine Dauersituation.

Längst ist der Zusammenhang erkannt zwischen mangelnder sozialer Teilhabe und schlechteren Schulleistungen, die den Teufelskreis aus mangelnder Bildung und erneuter Armut am Laufen halten. Seit 2011 soll das Bildungs- und Teilhabepaket Kindern die Möglichkeit zu Musikunterricht oder Sport geben. Ohne Erfolg. Mindestens 85 Prozent der Leistungsberechtigten profitieren davon nicht, erklärte jüngst der Paritätische Wohlfahrtsverband. Die schlechteste Teilhabequote teilen sich Rheinland-Pfalz und das Saarland. Das Problem: 15 Euro monatlich mehr alleine reichen nicht aus. Es muss passende Angebote geben – vor Ort. Mehr als jedes dritte Kind, dessen Eltern Sozialleistungen beziehen, wächst ohne Auto auf, stellte die Bertelsmannstudie 2015 fest. Wohin die Sehnsucht, der Armut zu entfliehen, führen kann, hat dieses Jahr auf erschreckende Weise der Kindesmissbrauch im westfälischen Lügde gezeigt. Der Täter suchte sich gezielt Kinder aus sozial schwachen Familien. Sie waren empfänglich für das, was er ihnen bot: Stockbrotbacken oder Ausflüge ins Schwimmbad.

Gar nicht hoch genug zu bewerten ist so die siebte Kindervesperkirche, die in der protestantischen Jugendkirche Ludwigshafen zu Ende geht. In einem Stadtteil, in dem die Eltern jedes dritten Kinds von Sozialgeld leben, haben 110 Schulkinder an vier Tagen nicht nur ein warmes Mittagessen erlebt, sondern auch soziales Miteinander. Der Clou: Weil die ganze Klassenstufe eingeladen ist, wurde niemand stigmatisiert. Solche „Vor-Ort-Angebote“, für die Kirchengemeinden wie geschaffen sind, stärken das Selbstvertrauen der Kinder – ein Schritt heraus aus dem Teufelskreis.

 

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