Genügend Gründe für kollektive Scham

von Wolfgang Weissgerber

Wolfgang Weissgerber

Kreuzlingen ist ein Ort der kollektiven Scham für jeden anständigen Schweizer. Der dort zu Beginn des Zweiten Weltkriegs errichtete Grenzzaun zur Nachbarstadt Konstanz hinderte deutsche Juden an der Flucht vor dem sicheren Tod im KZ. Hauptsache, es kamen keine Fremden ins Land. In solch üblen Erfahrungen liegt der Ursprung des modernen Asylrechts. So etwas sollte sich nicht wiederholen. Das scheint in Vergessenheit geraten zu sein.

Denn zurzeit achten die Staaten Europas darauf, dass sich die Geschichte von 2015 nicht wiederholt. Damals waren allein nach Deutschland mehrere hunderttausend Flüchtlinge aus Afghanistan und Nahost gekommen, die Kanzlerin hatte mit dem legendären Satz „Wir schaffen das!“ Menschlichkeit und Größe gezeigt. Davon will heute niemand mehr etwas wissen. Europa schottet sich ab. Dabei ist das Elend in den Herkunftsländern der Flüchtlinge nicht weniger geworden. Das betrifft die verworrene Lage in Afghanistan und das Drama in Syrien. Das Schicksal der Menschen ist zum Spielball von Interessen geworden.

Da ist Diktator Baschar el-Assad, der sich gegen eine diffuse Phalanx aus Regimegegnern, Islamisten und Terroristen an der Macht halten will. Da ist Russland, das in Syrien seinen Brückenkopf im Nahen Osten hat und deshalb Assad stützt. Und da ist Recep Tayyip Erdogan, der die syrischen Kurden niederhalten will, um jegliches Streben der türkischen Kurden nach Autonomie zu unterbinden. Deshalb sind türkische Truppen im Norden Syriens einmarschiert. Dort vertreiben sie die Kurden und versuchen, in die Türkei geflohene Syrer anzusiedeln.

Erdogan hat die Flüchtlinge im Land an die Grenze zu Griechenland gelockt, um von Europa weitere Zugeständnisse zu erpressen. Zum einen verlangt der türkische Präsident den Beistand der Nato bei seiner Kriegsführung in Syrien, zum anderen sollen die Europäer ihn mit weiteren Euro-Millionen dafür belohnen, dass er ihnen die Flüchtlinge vom Hals hält. Die Griechen ihrerseits riegeln ihr Land stellvertretend für Europa mit aller Gewalt ab und setzen das Asylrecht aus. „Die Außengrenzen schützen“ heißt dieser zynische Umgang mit verzweifelten Menschen im EU-Jargon.

Die USA ziehen sich als Ordnungsmacht im Nahen Osten zurück. Und das reiche Europa tut nichts. Zumindest sieht es so aus, als appelliere es nur. Bislang – Stand Dienstag – scheut sich die Bundesregierung sogar, wenigstens die vielen tausend Kinder aus dem Elend nach Deutschland zu holen. Nur „einige Hundert“ sollen es sein, und nur, wenn andere EU-Mitglieder mitziehen. Es ist schon Skandal genug, dass eine gemeinsame Flüchtlingspolitik am Widerstand osteuropäischer Länder scheitert. Aber ein Mindestmaß an Menschlichkeit muss ohne gesamteuropäischen Konsens möglich sein. Alles andere ist Grund für kollektive Scham.

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