Gegen den Brexit hilft auch beten nicht

von Martin Schuck

Martin Schuck

Jetzt scheint nur noch beten zu helfen. Die Abstimmung über den Brexit hat die englische Gesellschaft in zwei politische Lager gespalten, die sich unversöhnlich gegenüberstehen. Der Primas der anglikanischen Staatskirche, Erzbischof Justin Welby aus Canterbury, ruft deshalb zusammen mit dem Bischof von York, John Sentamu, zu Gebetstagen zur Vorbereitung auf den Brexit sowie am Tag danach zur Bewältigung desselben auf. Auch wenn die Gebete nun verschoben werden, wird die Entfremdung der anglikanischen Bischöfe von ihren Kirchenmitgliedern deshalb nicht geringer.

Der Flurschaden, den das Referendum um den Austritt aus der Europäischen Union (EU) in der Church of England, wie die anglikanische Staatskirche offiziell heißt, angerichtet hat, ist immens. An den Tagen vor der Abstimmung hat Erzbischof Welby öffentlich zum Verbleib in der EU aufgerufen, und auch die meisten anderen Bischöfe haben ihren europafreundlichen Standpunkt nicht verschwiegen. Von den 26 Bischöfen, die einen Sitz im englischen Oberhaus haben, hat sich nur einer als Brexit-Befürworter zu erkennen gegeben.

Die europafreundliche Position des Episkopats steht in scharfem Kontrast zur Haltung der Kirchenmitglieder. Haben insgesamt 53 Prozent der Bevölkerung des englischen Landesteils für den Brexit gestimmt, so waren es unter den Mitgliedern der Church of England genau zwei Drittel, und auch einige prominente Pfarrer sind als ­Befürworter des Ausstiegs aus der
EU aufgetreten.

Mit dieser Abstimmung wird ein grundlegendes Problem der Anglikaner deutlich: die Sprachlosigkeit, die zwischen der Kirchenleitung und den Kirchenmitgliedern herrscht. Den Bischöfen wird vorgeworfen, sie verstünden überhaupt nichts von den sozialen Nöten der einfachen Bevölkerung. Die Queen wiederum genießt als weltliches Oberhaupt der Church of England gerade deshalb bei den Brexit-Befürwortern großes Ansehen, weil sie sich nicht auf eine Seite gestellt hat, sondern versucht, vermittelnd und versöhnend zu wirken. Und weil für viele anglikanische Kirchenmitglieder ihre Kirche als sichtbares Symbol für das „Englisch-Sein“ schlechthin steht, erscheinen die Bischöfe als diejenigen, die sich England entfremdet haben.

Vor diesem Hintergrund ist es fast schon zwingend, dass sich die anglikanischen Brexit-Anhänger trotzig geben und den anstehenden Austritt aus der EU als weitere heldenhafte Episode der englischen Geschichte verklären. England, so wird argumentiert, habe schon einmal einen Brexit mit einer viel größeren Tragweite bewältigt, nämlich 1534 die Trennung von Rom durch König Heinrich VIII. Die daraus folgende Entstehung der anglikanischen Staatskirche habe die Identität des modernen England begründet, die durch die Mitgliedschaft in der EU verloren zu gehen drohe. Ob gegen diesen neuen Mythos Gebete helfen, ist nicht wahrscheinlich.

Meistgelesene Leitartikel & Kommentare