Die Schandtafel gibt Zeugnis der Geschichte

von Wolfgang Weissgerber

Wolfgang Weissgerber

Geschichte ist Geschichte. Sie lässt sich nicht zurückdrehen, sie lässt sich nicht leugnen, nicht glätten. Sie ist, wie sie ist. Der Holocaust lässt sich ebenso wenig rückgängig machen wie das Bombeninferno, mit dem die ­Alliierten den von Nazi-Deutschland ­entfachten Weltkrieg zurück nach Deutschland brachten. Der Holocaust, die millionenfache Ermordung von ­Juden, gehört ebenso zur deutschen ­Geschichte wie der Geist, aus dem er ­entstand: der Antisemitismus. Das als „Judensau“ bekannte Relief an der Stadtkirche in Wittenberg ist ein ­Bestandteil dieses Geistes.

Aber wie geht man heute damit um? Seit römischer Zeit leben Juden in Deutschland und Europa. Seit mehr als 1000 Jahren wurden Juden in Deutschland verfemt, verfolgt, ver­trieben – und umgebracht. Der große Reformator Martin Luther, der an der Wittenberger Stadtkirche predigte, war ein ausgewiesener Judenhasser, doch erfunden hat er den Antisemitismus nicht. Das Relief an seiner Wirkungsstätte hing dort schon über 50, womöglich gar 200 Jahre vor seiner Zeit. Ein deutscher Jude fühlt sich von dem verhöhnenden Kunstwerk beleidigt und klagt dagegen, bislang ohne Erfolg. Doch niemand, auch der Kläger nicht, betrachtet das Machwerk als Ausdruck einer in der Gemeinde, der Stadt Wittenberg oder gar Deutschland vorherrschenden Haltung.

Das ist auch kein Widerspruch zum aufkeimenden und latent stets vorhandenen Antisemitismus in Deutschland. Den gibt es, auch dies zu leugnen wäre zwecklos. Die Unverbesser­lichen von damals sind tot, doch neue Antisemiten wachsen nach. Das wird von Generation von Generation weitergegeben. Das amtliche Deutschland aber scheint dagegen wie die Mehrheit seiner Bewohner gefeit.

Also warum abhängen? Das würde bedeuten, die Geschichte zu verschweigen, zu beschönigen, zu vertuschen. Auch der Präsident des ­Zent­ralrats der Juden, Josef Schuster, sieht das so. Er hat die Debatte begrüßt, die mittlerweile über solche Bildwerke geführt wird, und eine klare Einordnung in den historischen Kontext gefordert. Schon nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatte es in Wittenberg große Diskussionen um diese Schandtafel gegeben. Die Stadt entschied sich, sie an der Kirche zu belassen. Das Relief solle bleiben „als Warnung und Mahnung der Geschichte“. Am 9. November 1988 – 50 Jahre nach der Pogromnacht des Jahres 1938 – wurde unter der Skulptur ein in den Boden eingelassenes Mahnmal aus Metall enthüllt.

Vielleicht reicht das noch nicht aus. Hilfreich wäre es, mit einer ausführlichen, erklärenden Hinweistafel die Auseinandersetzung mit diesem Zeugnis der dunklen Geschichte zu befördern. Sie könnte erläutern, warum das Relief – nicht das einzige im Land – als Relikt der Vergangenheit und als Aufforderung zur Auseinandersetzung erhalten bleibt, statt es zu entfernen oder schamhaft zu verhüllen.

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