Die Einsicht gewinnt Oberhand

von Wolfgang Weissgerber

Wolfgang Weissgerber

Corona hat das Land fest im Griff. Buchstäblich die ganze Welt, auch die bislang noch weitgehend verschonten Länder, bereiten sich auf die Pandemie vor oder sind längst voll im Kampf gegen das Virus engagiert. Die Welt ist eine andere geworden, und sie wird auch danach eine andere sein.

Die meisten Betriebe und Verwaltungen haben ihre Belegschaft nach Hause geschickt – aber keineswegs in die Freizeit. Homeoffice heißt das neudeutsche Zauberwort. Das gab es auch schon vor Corona. Doch bislang war es eine Ausnahmesituation, die je nach Sichtweise als Garant von Freiheit und Flexibilität oder als perfides Instrument der Ausbeutung galt.

Viele Beschäftigte scheinen in der Heimarbeit aber eine Chance für individuelle Freiheit zu sehen und verlagern – das wollen wir freundlich unterstellen – die Tätigkeit fürs Unternehmen in die Abend- und Nachtstunden. Tagsüber werden, sofern keine Kinder zu beaufsichtigen sind, Haus und Garten auf Vordermann gebracht, längst überfällige Reparaturen erledigt, Keller und Dachböden entrümpelt. Vor Baumärkten war Anfang voriger Woche kaum ein Parkplatz zu bekommen. Städte wie Frankfurt baten, die Wertstoffhöfe nur noch in dringenden Fällen aufzusuchen.

Mehr und mehr scheint inzwischen die Einsicht Oberhand zu gewinnen, dass allein der Verzicht auf alle nicht unbedingt notwendigen Kontakte die Verbreitung des Virus eindämmen oder verzögern kann. Bund und Länder haben Freiheit und Freizügigkeit teils empfindlich eingeschränkt, ohne dass sich nennenswerter Widerstand regt. Doch nicht nur Verfassungsrechtler fragen sich, ob der Staat da nicht zu weit geht. Liberale Rechtsstaaten gebärden sich in der Krise auf einmal autoritär. Die westeuropäischen Demokratien sind aber allem Anschein so weit gefestigt, dass Befürchtungen, es bleibe dabei auch nach der Krise, wohl unbegründet sind. Populistisch regierte Länder wie Polen, Tschechien, Ungarn und selbst das einst so liberale Dänemark, die als Erste die Grenzen auch zu ihren Nachbarn in der EU schlossen, könnten sich in der Einschränkung von Bürgerrechten aber bestärkt fühlen.

Die Folgen der Corona-Krise für Handel und Gewerbe, aber auch für die Kultur sind immens und noch kaum abzusehen. Hotels, Gastronomie, Luftfahrt und Tourismus stehen am Abgrund. Die Industrieproduktion steht schon teilweise still. Das Milliardenpaket der Bundesregierung wird vielleicht Großbetriebe und Mittelständler retten. Ob es aber auch Kleinkünstler, Friseure und andere Selbstständige, deren Geschäftsmodell über Nacht zerbröselt, vor dem Untergang bewahrt? Was ist mit säumigen Mietern, die zwar vorerst Kündigungsschutz genießen, wenn die Einnahmen wegbrechen, aber anschließend auf einem Berg von Schulden sitzen? Wie belastbar ist unser krank gespartes Gesundheitssystem? Fragen über Fragen – die Antworten stehen aus.

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