Der Sozialstaat in der Hängematte der Tafeln

von Renate Haller

Renate Haller

Die Tafeln schlagen Alarm. Die Zahl der Menschen, die sich dort Brot und Äpfel, Joghurt und Milch abholen, weil sie die Preise im Supermarkt nicht bezahlen können, ist abermals gestiegen. Im Oktober waren es 1,65 Millionen Frauen, Männer und Kinder. Das sind zehn Prozent mehr als ein Jahr zuvor. Besonders die Alten sind betroffen, bei ihnen beträgt der Anstieg 20 Prozent.

Statistisch gesehen schmeißt derzeit jeder Bundesbürger pro Jahr 75 Kilo Lebensmittel in die Tonne. Zu viel, findet Bundesernährungsministerin Julia Klöckner (CDU). Beim Nationalen Dialogforum zur Reduzierung der Lebensmittelverschwendung forderte sie deshalb innovative Lösungen. Eine davon ist eine Online-Plattform, die es Unternehmen leichter machen soll, Lebensmittel abzugeben. Mithilfe einer App können sich Tafeln und Unternehmen dann abstimmen. Für diese Plattform will Klöckners Ministerium 1,5 Millionen Euro bereitstellen. So soll es gelingen, 40 Prozent mehr Lebensmittel zu retten.

Das klingt zunächst nach einer guten Sache. Lebensmittel gehören auf den Teller und nicht in die Tonne. Aber schon jetzt können die Tafeln nicht alle Spenden abholen, die ihnen angeboten werden. Seit Beginn der Tafelarbeit monieren Kritiker, dass die Helfer es mit ihrer guten Tat ermöglichen, dass sich der Staat seiner Verantwortung entzieht, die Existenz seiner Bürgerinnen und Bürger zu sichern. Der Vorschlag Klöckners geht leider in die gleiche Richtung. Beim Versuch, mehr Lebensmittel zu retten, soll den Ehrenamtlichen noch mehr Arbeit aufgebürdet werden. Das ist, als wolle man einen erschöpften Sportler anhalten, sein Training doch bitte zu intensivieren. In der vergangenen Woche hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass der Staat auch in einem anderen Bereich seinen Pflichten nicht nachkommt. Die Sanktionen gegen Hartz-IV-Empfänger, die nicht zu einem Termin erscheinen oder eine andere Regel verletzen, dürfen höchstens 30 Prozent der Regelleistung betragen. Bislang wurden diese gerne auch mal zu 60 oder gar 100 Prozent ausgesetzt. Das bedeutete, dass jemand über Monate hinweg keinerlei finanzielle Unterstützung erhielt.

Macht ja nichts, es gibt ja die Tafeln, könnte man zynisch anmerken. Und tatsächlich gibt es Mitarbeiter in den Jobcentern, die Menschen zu den Tafeln schicken. Das werden sie wohl auch weiterhin tun, aber sie dürfen ihnen nicht mehr nehmen, was ihnen zusteht, und das ist das Existenzminimum. Sicher werden davon auch Menschen profitieren, die schlicht keine Lust haben, selbst für ihr Auskommen aufzukommen, Menschen, die sich gerne in der viel zitierten sozialen Hängematte ausruhen. Diese Menschen wird es immer geben, egal, wie streng Gesetze formuliert sind. Wegen ihnen aber all die anderen zu bestrafen, die krank oder anderweitig belastet sind und Hilfe brauchen, kann nicht Ziel des Staates sein.

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