Des letzten Kaisers neue Kirche

Der Berliner Dom wurde einst als Hauptkirche des Protestantismus gebaut – Gewaltiger Anachronismus

Beliebtes Fotomotiv: Blick vom Lustgarten auf den Dom in seiner imperialen Pracht, der 1993 wieder eingeweiht wurde. Foto: Greif

Der Kaiser dankte 1918 ab. Der Staat Preußen wurde 1947 formell aufgelöst. Über Berlin gingen zwei Weltkriege, die Weimarer Republik, das Dritte Reich, die deutsche Teilung und die Wiedervereinigung hinweg. Berlin erfindet sich seit 1990 jeden Tag neu – ist Wandel, Dynamik, Moderne, Zukunft. Und dann dieses leicht verbeulte Schild im Domtreppenhaus: weißes Emaille, knallrote Buchstaben. Die Aufschrift lautet: „Aufgang für den Hofstaat, für Diplomaten, Mitglieder des Bundesrats, Reichstags, Herrenhauses, Landtags und für höhere Beamte.“ Auf dem Schild ist es noch 1905. Anachronistischer geht es nicht.

Genau genommen ist der ganze Berliner Dom ein gewaltiger Anachronismus, aus der Zeit gefallen in all seiner aufgeblasenen Pracht, seiner wilhelminischen Herrschaftsarchitektur. Dieses Gotteshaus ist genauso, wie die Evangelische Kirche in Deutschland einmal war, aber seit Jahrzehnten nicht mehr sein möchte: hierarchisch, elitär, prachtvoll. Er ist ein Symbol für den Irrweg, den der Protestantismus in Deutschland in seinem Buhlen um Einheit mit Nation und Vaterland hinter sich hat. Aber gleichzeitig ist der Dom natürlich ein Kulturdenkmal ersten Ranges: Nach dem Willen von Kaiser Wilhelm II. sollte er die neue Hauptkirche des Zweiten Kaiserreiches sein und des Protestantismus, als dessen Führungsmacht sich das neue evangelisch regierte Deutschland verstand.

Die zweischneidige historische Rolle des Doms und seine herausragende architektonische Größe, nicht zuletzt das eigentümliche Zeitreise-Gefühl auf Kaiser Wilhelms Spuren, machen die Faszination für rund 800 000 Menschen aus, die pro Jahr den Dom besuchen. Dieses Bauwerk zu beleben, ohne seine imperiale Pracht zu zelebrieren, ist eine Herausforderung.

Der Dom ist, kirchlich gesehen, eine exterritorale Zone, die keiner Landeskirche, sondern unmittelbar der Union der Evangelischen Kirchen (UEK) unterstellt ist. Wer auf der Museumsinsel oder am Alexanderplatz wohnt und evangelisch ist, gehört zur Gemeinde St. Petri und St. Marien. Der „Gemeinde der Oberpfarr- und Domkirche“ muss man ausdrücklich per Unterschrift beitreten. 1500 Menschen haben das bislang getan, Tendenz steigend.

Ihren Sonderstatus, den ein Hauch von großer Freiheit anstelle von amtskirchlicher Gängelung umweht, bezahlt die Gemeinde aber teuer: Der 4,5-Millionen-Jahresetat speist sich zu 97 Prozent aus selbst erwirtschaftetem Geld, nur rund 135?000 Euro kommen aus Kirchensteuern. Das Leitbild der Gemeinde definiert den Dom als „Kirche für andere“. Die kommen in Scharen, entweder als Touristen, als Konzertgäste oder als Gottesdienstbesucher. Der Dom sei im Grunde ein „Dreispartenhaus“, sagt Gudrun Seidewitz, die das Veranstaltungsbüro leitet. Ein Stab von 48 Mitarbeitern von der Kassiererin im Museumsshop bis zum kaufmännischen Geschäftsführer belebt das Gebäude. Neben dem eigentlichen sakralen Hauptsaal verfügt dieser Palast Gottes noch über sage und schreibe 515 andere Räume.

Draußen am Lustgarten entsteigen zwei japanische Reisegruppen ihren Bussen. Sie reihen sich in den endlosen Besucherbandwurm ein, der sich vom Portal über den Kirchenraum, das Treppenhaus, das Museum und den Kup­pel­um­gang, dann hinab in die Hohenzollerngruft und via Museumsshop und Café wieder ins Freie windet. Derweil verteilen am Eingang zur Predigtkirche Helfer zweisprachige Liedzettel, gut 100 Leute bleiben zur Mittagsandacht hier hängen. Nach dem letzten Orgelstück schlägt die Stunde für Ortwin Freischlad. Der Ruhestandsingenieur aus dem ehrenamtlichen Kirchenführerteam erwartet am Treffpunktschild unter der gewaltigen Kuppel die Gäste zu einer von zwölf Führungen täglich.

Man dürfe nicht in Versuchung kommen, die Wirkung dieses Kirchenraumes durch Pathos nochmal zu toppen, vielmehr müssten Schlichtheit und Innigkeit das Imperiale unterlaufen, sagt Petra Zimmermann, seit neun Jahren Dompredigerin. Vor einigen Jahren habe der Dom wegen seiner besonderen Gemeindestruktur noch „als eine Art Ufo“ gegolten. Man begegnete dem Experiment Wiederbelebung mit Skepsis – jeder Mensch, der hier seinen Mitgliedsantrag unterschrieb, war ja für seine Ortsgemeinde verloren. Das habe sich gewandelt, weil inzwischen die Strahlkraft des Doms als evangelischer Leuchtturm anerkannt werde.

Diese Strahlkraft hat viele Facetten. Dass sich die Domkirchengemeinde 1993 eine traditionsbewusste Gottesdienstkultur als zentrale Aufgabe vornahm, stieß in der säkularen Gesellschaft Berlins auf Kritik. Doch anstelle des prognostizierten Schiffbruchs erlebt der Dom eine liturgische Blütezeit. Zum Sonntagsgottesdienst kommen um die 600 Leute, und der Dom hat seine Rolle als Kanzel des Protestantismus in Deutschland zurückgewonnen. Zwölfmal im Jahr predigen hier die Landesbischöfe und Kirchenpräsidenten der Gliedkirchen der EKD. Experimentierfreudiger ist dagegen das Kulturangebot, das rund 100 Veranstaltungen im Jahr umfasst. Das reicht vom szenisch-getanzten Bach’schen Weihnachtsoratorium bis zu Laser-Shows mit Bodennebel.

Es gibt noch einen Platz im Dom, an dem sich das Zeitreisegefühl besonders aufdringlich meldet. Es ist die Kaiserloge gegenüber des Altarraums mit der Wand aus rotem Samt und dem Hohenzollernwappen, vor der sich Wilhelm II. gerne ablichten ließ. Und trotzdem ist er so weit weg wie kein anderer Hohenzollernherrscher, von denen die meisten in der Domgruft beigesetzt sind. Bevor der letzte Kaiser 1941 im niederländischen Exil starb, verfügte er, man möge seine Gebeine erst dann nach Deutschland überführen, wenn dort die Monarchie wiederhergestellt sei. Damit wird es wohl vorläufig nichts. Thomas Greif

Pfälzischer Hausherr im Dom

Als Vorsitzender der Union Evangelischer Kirchen (UEK) ist der pfälzische Kirchenpräsident Christian Schad „Hausherr“ im Berliner Dom. Die größte Hauptstadtkirche versteht sich als zentraler Ort der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Die UEK ist Rechtsnachfolgerin der früheren Preußischen Landeskirche und hat daher aufsichtliche Befugnisse.

Der UEK liege besonders daran, dass das unierte Erbe des Doms, das sich in den Pfeilerfiguren der Reformatoren Luther, Zwingli, Melanchthon und Calvin auch im Bauprogramm abbilde, sowie das breite Spektrum evangelischer Frömmigkeit lebendig bleibe, sagt Schad. Der Dom sei Hofkirche der brandenburgischen Kurfürsten und später des Königreichs Preußen gewesen. Auch im 17. Jahrhundert, als der lutherische Hof zum reformierten Bekenntnis übertrat, sei dem Landesherren an einer respektvollen Koexistenz zwischen Lutheranern und Reformierten gelegen gewesen. Daran habe König Friedrich Wilhelm III. in seinem Unionsaufruf 1817 anknüpfen können. Vor allem durch die finanzielle Unterstützung der Evangelischen Kirche der Union (EKU) sei der Wiederaufbau des Doms ab den 1970er Jahren gelungen. Im Jahr 2003 habe sich die EKU zur Union Evangelischer Kirchen in der EKD (UEK) erweitert, zu der heute zwölf Landeskirchen gehören. KB

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