Schriftreform mit Langzeitwirkung

Vor 100 Jahren stirbt Ludwig Sütterlin – Mit seiner Schreibschrift ¬endet ein deutscher Sonderweg - von Florian Riesterer

Anfang des 20. Jahrhunderts machte sich Ludwig Sütterlin daran, die deutsche Schreibschrift zu vereinfachen. Foto: Kunz

Mit Tinte und Feder: Wer sich mit Ahnenforschung beschäftigt, stößt in den Kirchenbüchern der vergangenen 500 Jahre im Zentralarchiv der Evangelischen Kirche der Pfalz auf deutsche Kurrentschriften. Foto: Landry

Der Grafiker Ludwig Sütterlin. Foto: wiki

Großmutters Kochrezepte oder Feldpost des Großvaters: Vieles, was vor noch nicht einmal 100 Jahren in Schreibschrift festgehalten wurde, ist für viele Deutsche heute bereits unlesbar. Schuld daran ist das Verbot der Deutschen Schreibschrift durch die Nationalsozialisten im Jahr 1941. Dabei war erst 1935 eine vereinfachte Variante Teil des Lehrplans geworden. Diese wiederum ist trotz der vergleichsweise kurzen Zeit, in der sie Schüler gelernt haben, immer noch unter dem Namen ihres Erfinders bekannt, der den Erfolg seiner Schrift­reform jedoch nicht mehr erlebte. Vor 100 Jahren starb der Grafiker Ludwig Sütterlin.

Sütterlinschrift: Das steht für Tinte und Feder, Schönschreibhefte und schulischen Drill – zumindest für diejenigen, die sie noch gelernt haben. Für alle anderen ist sie ein Zeitfenster in das Leben von Eltern und Großeltern: Einträge ins Poesiealbum oder alte Briefe, deren Seiten langsam vergilben. Mehr noch: Für viele gilt sie als Oberbegriff für alte deutsche Schreibschriften schlechthin, ist zum Markenzeichen geworden, ähnlich wie Tempo für mehr als eine Generation Taschentuchnutzer.

Das zumindest stellt Gabriele Stüber, Leiterin des Zentralarchivs der Evangelischen Kirche der Pfalz, fest, wenn sie sich daranmacht, Interessierte in die Handschriften des 18. und 19. Jahrhunderts einzuführen. Dabei war die Sütterlinschrift als solche vor 1900 noch gar nicht erfunden. Umgekehrt verbinden viele mit dem Begriff „deutsche Schreibschrift“ nicht unbedingt Sütterlinschrift: Das erlebte Manfred Braun, der für sein Buch „Deutsche Schreibschrift – Kurrent und Sütterlin lesen lernen“ auf der Suche nach Schriftstücken in deutscher Schreibschrift war. Was ihm auf seine Anfragen hin geschickt wurde, waren Texte in Fraktur – für viele der Inbegriff „deutscher Schrift“. Erst als er dezidiert nach Sütterlin gefragt habe, hätte sein Aufruf Wirkung gezeigt, schreibt Braun im Vorwort seines Buchs.

Dass der Name Sütterlin im Bewusstsein derart verankert ist, mag daran liegen, dass Sütterlin am Ende einer jahrhundertealten Entwicklung von Schreibschrift im deutschen Sprachraum steht, in dem lange Zeit zwei Schriften nebeneinander existierten: die lateinische und die deutsche Schrift, die sich allerdings selbst aus Ersterer entwickelt hat. In Europa schreiben Menschen seit rund zweieinhalb Jahrtausenden im Prinzip in lateinischer Schrift. Dass trotzdem nicht alles für jeden lesbar ist, liegt an den unterschiedlichen Entwicklungsstufen oder -formen dieser Schrift, erläutert Stüber.

Kurz zusammengefasst, entwickelte sich aus den unter anderem in Triumphbögen verewigten römischen Kapitalen die in Deutschland heute übliche Druckschrift. Im 3. und 4. Jahrhundert entstanden daraus in Stufen unterschiedliche Schreib-, sprich Kursivschriften, die, nachdem sie beim Zusammenbruch des Römischen Reichs in mehrere regionale Schriften zersplittert waren, unter Karl dem Großen in der sogenannten Karolingischen Minuskel zur ersten abendländischen Einheitsschrift wurden. Seit Ende des 11. Jahrhunderts entstand daraus wiederum die gotische Schrift, in der die meisten spätmittelalterlichen Texte geschrieben sind.

Im 16. Jahrhundert begann das Nebeneinander von zwei Schriften in Europa. Auf der einen Seite wandten sich die Humanisten von der als barbarisch verschrienen gotischen Schrift ab und entdeckten die Texte der vorchristlichen Philosophen neu, die sie als scheinbar antike Schrift Antiqua nannten. Da es sich dabei allerdings um Abschriften aus dem 8. und 9. Jahrhundert handelte, erlebte lediglich die karolingische Minuskel – ironischerweise ein direkter Vorläufer der gotischen Schrift – eine Renaissance. Diese später als „lateinische Schrift“ bezeichneten Buchstaben lösten in West- und Südeuropa die gotische Schrift ab, später folgte fast der gesamte Rest Europas dieser Entwicklung. Gleich einer Insel hielt ab dem 19. Jahrhundert schließlich nur noch der deutsche Sprachraum an gotischer Schrift fest, die sich noch in mehreren Kurrent-, sprich Kursivschriften, wandelte. Daraus erschließt sich ihre heutige Bezeichnung als „deutsche Schrift“.

Was allerdings nicht heißt, dass die lateinische Schrift aus dem deutschen Sprachraum verschwand. Vielmehr lernten Schüler zwei Schriften nebeneinander. Während im normalen Schriftverkehr deutsche Schrift zur Anwendung kam, war für Eigennamen oder Fremdwörter die lateinische Schrift reserviert. Blättert man im Zentralarchiv der Landeskirche noch in Kirchenbüchern aus dem 20. Jahrhundert, wird dieses Nebeneinander überdeutlich. Und Schüler, die sich, von Stüber angeleitet, mit älteren Handschriften beschäftigen, stellen immer wieder ernüchternd fest: Was sie in deutscher Sprache verstehen könnten, können sie nicht lesen. Und was sie entziffern können, verstehen sie nicht – weil es Latein ist.

Dass dieses Nebeneinander der Schriften, dieser viele Jahrhunderte alte deutsche Sonderweg, endete, ist ausgerechnet den Nationalsozialisten zuzurechnen. Sie machten der Reformschrift 1941 im Normalschrift-Erlass ein Ende. Eine einfache Erklärung dafür gibt Gabriele Stüber: In der Phase der größten Ausdehnung des Deutschen Reichs sollte die Übernahme der weitverbreiteten lateinischen Schrift schlicht und einfach die Beherrschung der umliegenden Länder vereinfachen. Zur Begründung diente wieder einmal die jüdische Bevölkerung als Sündenbock. Die bisher verwendete Schrift seien Schwabacher Judenlettern, ist in dem Erlass nachzulesen. Demnach hätten sich Juden schon im 16. Jahrhundert den Druckereien bemächtigt, die deutsche Frakturschrift als Druckschrift gehe aus diesen Machenschaften hervor. Künftig sei nur noch die lateinische Schrift zu verwenden: Das Aus für die deutsche Schreibschrift.

Ludwig Sütterlin wiederum hatte nur das Wohl der Kinder im Sinn, als er sich daranmachte, Anfang des 20. Jahrhunderts die Schreibschrift zu reformieren. Allerdings geschah dies nicht aus freien Stücken, sondern als Auftragsarbeit des preußischen Kultur- und Schulministeriums. Zur Zeit der Jahrhundertwende habe allgemein ein recht großer „Normierungswahn“ geherrscht, sagt Stüber. Dazu zählte unter anderem die Standardisierung von Maßeinheiten, auch infolge der großen Weltausstellungen Ende des 19. Jahrhunderts; in Deutschland hatte 1880 Konrad Duden versucht, die deutsche Rechtschreibung mit seinem orthografischen Wörterbuch zu vereinheitlichen.

Ludwig Sütterlin, 1865 in Lahr im Schwarzwald geboren, war mit 23 Jahren nach Berlin gekommen, wo er im dortigen Kunstgewerbemuseum auf den Grafiker Emil Doepler traf sowie den Historienmaler Max Koch. Bekannt sind von Sütterlin aus dieser Zeit das „Hammer-Plakat“ für die Gewerbeausstellung 1896 sowie das erste Markenzeichen der Elektrofirma AEG oder Aktien der Firma Siemens. Auch Gläser, Vasen und Lederarbeiten gestaltete er. Schließlich verlegte er sich ganz auf Schriftkunst. Indem Ludwig Sütterlin die stark kursiv stehenden Buchstaben der Kurrentschrift aufrecht setzte, extreme Ober- und Unterlängen entfernte und den Kindern so schwierige Aufschwünge ersparte, gelang ihm eine Schulausgangsschrift, die bereits 1915 in Preußen eingeführt wurde. Zwei Jahre später starb Sütterlin. So erlebte er die Einführung der Schrift in den allgemeinen Lehrplan unter den Nationalsozialisten 1935 nicht mehr.

Sütterlins Schrift löste sich nach ihrem Verbot keineswegs in Luft auf. In vielen Schulen Deutschlands wurde bis in die 1950er und 1960er Jahre Sütterlin gepaukt. Heute lernen vornehmlich Historiker und Ahnenforscher Sütterlin und ihre Vorgängerschriften. Die Universität des Saarlandes bietet gar ein Online-Lernprogramm an. Dazu kommen Schreibstuben quer durch die Republik, in denen sich Liebhaber der alten Schrift treffen – um Texte zu transkribieren. „Oft sind Kriegstagebücher darunter“, sagt Karlheinz Sausbier, der sich schon seit mehr als zehn Jahren in der Interessengemeinschaft Sütterlin Kurpfalz in Ludwigshafen trifft. Der 60-Jährige kam über die Ahnenforschung dazu. „Ich habe schnell gemerkt, dass das ohne Sütterlinschrift nicht geht“, sagt er. Heute klärt er Interessierte in Volkshochschulen zur Schrift und ihrer Geschichte auf.

Was die heutigen Lehrpläne betrifft, hat das Ende der Sütterlinschrift zwar dazu geführt, dass Schüler eine Schreibschrift lernen statt zwei. Der deutsche Sonderweg ist beendet – treibt dank des Föderalismus und der deutsch-deutschen Geschichte allerdings wieder neue Blüten. Je nach Bundesland stehen Schulen zwischen ein und vier sogenannter Ausgangsschriften zur Verfügung: die auf der Normalschrift basierende Lateinische Ausgangsschrift (1953), die Vereinfachte Ausgangsschrift (1972), die Schulausgangsschrift in der DDR ab 1958 und die Grundschrift, die momentan im Auftrag einer Expertengruppe des Grundschulverbands erprobt wird.

Hinter Letzterer verberge sich allerdings keine weitere Schrift, betont Heike Neugebauer, Vorsitzende der rheinland-pfälzischen Landesgruppe des Grundschulverbands. Die Grundschrift sei ein didaktisches Konzept, das Kinder stärker in die Verantwortung nehme. Es gehe nicht darum, Buchstaben „abzumalen“. Vielmehr werden zu den Buchstaben, die sich an der Druckschrift orientieren, Schreibmöglichkeiten vorgegeben. Der Schüler entscheidet, inwieweit er die Buchstaben zusammenzieht. Eine feste Schreibschrift im Anschluss an eine Druckschrift zu lernen, werfe die Schüler im Lernen zurück, hat Neugebauer als Leiterin der Speyerer Woogbachschule beobachtet. „In der vierten Klasse sind mehr als 80 Prozent der Schüler deshalb zur Druckschrift zurückgekehrt.“ Die Zeit, die man ohne eine zweite Handschrift spare, lasse sich besser in die Weiterentwicklung einer flüssigen Handschrift investieren.

Dass das so passieren wird, bezweifelt Hanna Sauerborn, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Lesen und Schreiben. Zwar könne man mit dem Konzept der Grundschrift den Zugang zur Handschrift unterstützen. In der Praxis sehe sie aber oft, „dass Lehrer, die sich für die Grundschrift entschieden haben, zu wenig Zeit auf Übungen zur Entwicklung einer flüssigen Handschrift, in der Buchstaben verbunden werden, verwenden und dann die Kinder immer Druckschrift schreiben“. Was laut der Kultusministerkonferenz durchaus erlaubt ist. Vorgegeben ist als Bildungsstandard im Fach Deutsch für den Primarbereich nur eine flüssig geschriebene „gut lesbare Handschrift“. Mit oder ohne verbundene Buchstaben.

Das musste auch die Justizvollzugsanstalt Celle vor einigen Jahren erfahren. Die dortigen Bediensteten wollten einen 37-jährigen Gefängnisinsassen dazu verpflichten, die Kosten für das Übersetzen des Briefwechsels mit seiner Freundin zu übernehmen und drohten mit dem Zurückhalten der Briefe. Der Grund: Die Briefe konnte niemand lesen und kontrollieren. Das Oberlandesgericht Celle widersprach dem. In Deutschland sei nicht verbindlich vorgeschrieben, welche Schriftart im Schriftverkehr zu verwenden sei. Außerdem habe der Insasse beileibe keine Geheimschrift verwendet, sondern die lange gebräuchliche deutsche Schreibschrift: Sütterlin.

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