Wenn aus Glocken Schwerter werden

Vor 100 Jahren wird rund die Hälfte aller ­Glocken ­eingeschmolzen – Auch die Pfalz bleibt nicht verschont • von Karsten Packeiser

Letztes Geleit fürs Geläut: In Bad Dürkheim werden 1917 die zwei Glocken der Schlosskirche auf einem Pferdewagen abtrans­portiert. Foto: Zentralarchiv

Noch am Seilzug hängt die Glocke der Neustadter Stiftskirche. Foto: Zentralarchiv

Anfangs hatten die Deutschen Zinnkrüge und Messingpfannen im pat­rio­ti­schen Taumel noch freiwillig abgegeben. Doch je länger die Materialschlachten des Ersten Weltkriegs andauerten, umso stärker gierte die Rüstungsindustrie nach den knapper werdenden Rohstoffen. Schließlich ordnete das Berliner Kriegsministerium im Frühjahr 1917 an, Metall zwangsweise einzuziehen. Im Laufe der Aktion, die vor 100 Jahren anlief, wurde rund die Hälfte aller deutschen Kirchenglocken aus den Türmen abgehängt und eingeschmolzen. „Ein sinnloses Zerstörungswerk von unglaublicher, kaum fassbarer Dimension“, urteilt Kurt Kramer in seinem Buch zur Kulturgeschichte der Glocke „Klänge der Unendlichkeit“.

Per Erlass wurden alle Kirchengemeinden im Deutschen Reich im Frühjahr zunächst aufgefordert, eine Auflistung aller ihrer Bronzeglocken bereitzustellen. Je nach kunsthistorischem Wert sollten die Glocken einer von drei Kategorien zugeteilt werden. Glocken der Gruppe A mussten grundsätzlich abgeliefert und „in kürzester Zeit dem Zugriff der Heeresleitung“ überlassen werden, eine Gruppe B mit mäßigem kulturellen und historischen Wert wurde zunächst zurückgestellt, Glocken der Gruppe C galten als geschützt. Außerdem sollte jede Kirche mindestens die kleinste ihrer Glocken behalten dürfen. Außer für die Glocken interessierten sich „Metall-Mobilmachungsstelle“ und „Kriegsmetall-Aktiengesellschaft“ auch für Orgelpfeifen und Dachrinnen. Selbst Kupferdächer sollten in einigen Fällen demontiert werden.

Auf Geheiß der Militärs sollte die Maßnahme gut organisiert über die Bühne gehen, ohne unnötigen Unmut in der Bevölkerung auszulösen. Evangelische und katholische Kirche leiteten die Anordnung der Militärs an die Gemeinden weiter, die die Abnahme in Eigenregie regeln sollten. Von der kirchlichen Obrigkeit mussten sie keinen spürbaren Widerstand erwarten. „Von größtem Werte ist es, wenn in dieser hochwichtigen Sache die Zivil- und Militärbehörden durch die Herren Geistlichen unterstützt würden, deren vaterländischer Sinn sich im Laufe des Krieges so oft bewährt hat“, ordnete das Konsistorium der Pfälzer Protestanten an. Leider sei im Zuge der Glockenabnahme „teilweise eine recht bedenkliche Trübung der Stimmung, ja sogar Erregung und Erbitterung eingetreten“. Kirche und Staat waren sich weitgehend einig, dass Veröffentlichungen in Zeitungen oder Amtsblättern zu dem Thema unterbleiben sollten. Bei Besprechungen staatlicher und kirchlicher Beamter ging es dann vorrangig auch um finanzielle Fragen. Wie aus dem erhaltenen Protokoll einer Sitzung im Kriegsministerium hervorgeht, klagten die Kirchen über die niedrigen Entschädigungszahlungen und forderten vom Militär die Bereit­stellung von Automobilen, um Gutachter zu den historisch wertvollen Glocken zu chauffieren. Ein Regierungsvertreter versprach im Gegenzug, nach Kriegsende eine Reichsbeihilfe für die Anschaffung von Ersatzglocken zu prüfen.

„Das alles ist ziemlich obrigkeitshörig durchgeführt worden“, urteilt der Glockensachverständige des katholischen Bistums Mainz, Günter Schneider. „Die örtlichen Kirchengemeinden haben sich am ehesten gewehrt, weil es für sie um ein Stück Heimat ging.“ Tatsächlich lagern in den kirchlichen Archiven noch immer etliche Schriftwechsel aus der ersten Jahreshälfte 1917, die Einblicke in die Stimmung an der Basis geben. „Das Königliche Konsistorium möchte ich aber bitten, uns gegen die angedrohte schnelle Beschlagnahmung zu schützen, da das ohne Frage eine große Störung des Gottesdienstes bedeuten würde“, notierte etwa der evangelische Pfarrer von Camberg im Hintertaunus an seine Wiesbadener Vorgesetzten. Andere Gemeinden argumentierten, ihre Glocken seien so groß, dass die Turmwand zertrümmert werden müsste, um sie abzuliefern. Aus dem hessischen Biedenkopf wiederum kam der Vorschlag, das Militär möge lieber erst die örtlichen Denkmäler von geringem künstlerischen Wert abbauen, ehe es auf die Kirchenglocken zugreife. Ein anderes Dekanat klagte, die einzige verschonte Glocke sei so klein, dass das Gottesdienstgeläut je nach Windstärke nun in der Stadt gar nicht mehr zu hören sei.

Die größten Erfolgschancen versprachen sich viele Gemeinden allerdings von einer „wohlgeneigten Bescheinigung“, die zu einer Eingruppierung in die geschützten Kategorien C oder B führen könnte. Die alte Kirchenglocke, argumentierte das Pfarramt von Kronberg, habe schließlich schon 1522 beim Einzug des Landgrafen Philipp von Hessen geläutet und müsse daher erhalten bleiben. Die neueren Glocken wolle die Kirchengemeinde hingegen „gern opfern für das Vaterland“, schrieb der Pfarrer. Tatsächlich standen die Chancen recht gut, dass ein entsprechendes kirchliches Gutachten auch Berücksichtigung fand. Auch die staatliche Denkmalpflege habe in Zweifelsfällen meist zugunsten des Erhalts entschieden, berichtet Günter Schneider. Allerdings seien Geistlichkeit und Kirchenvorsteher gar nicht überall am Erhalt ihrer wertvollsten Glocken interessiert gewesen: „Auch sehr alte Glocken wurden in der Hoffnung auf schönere, besser klingende Neuanschaffungen voreilig abgegeben.“

Prinzipieller Widerspruch am Kriegsgeschehen regte sich im Zusammenhang mit der Beschlagnahmung in den Kirchen hingegen nur in seltenen Ausnahmefällen. Mitarbeiter des Zentralarchivs der pfälzischen Landeskirche in Speyer stießen auf eine Predigt des Kuseler Dekans Karl Munzinger vom Juli 1917, aus der kaum versteckte Wut herausklingt: „Es geht uns gegen jegliches Gefühl, dass sie, die wie nichts anderes den Frieden predigen und wunde Herzen heilen sollten, in grausigem Morden Leiber zerreißen und nie vernarbende Wunden schlagen sollen.“ Der biblische Prophet Micha habe einst davon gesprochen, dass die Spieße zu Sicheln und die Schwerter zu Pflugscharen umgeschmiedet würden: „Heute sind wir so weit von dem uralten Menschheitstraum entfernt, dass die harmlosen Geräte des Alltags zu Waffen, die friedlichen Glocken zu todspeienden Geschützen werden müssen. Das ist furchtbar.“

So bemerkenswert der Verzweiflungsruf aus der Westpfalz auch war, in einem Detail irrte Dekan Munzinger. Anders als etwa zur Zeit Napoleons wurden die Glocken nicht zu Kanonen und Geschützen umgeschmolzen – sondern zu Munition. Und auch die alte Tradition, nach der Glockengießer zu Kriegszeiten immer auch Kanonen herstellten, war bereits im 19. Jahrhundert erloschen. 1917 landeten Abertausende Glocken nun auf großen Sammelplätzen. „Die sogenannten Glockenfriedhöfe, auf denen die Glocken zur letzten Ruhe gebettet wurden, bevor sie der Vernichtung anheimfielen, hatten etwas unsagbar Wehmütiges“, zitiert Buchautor Kramer einen Zeitzeugen. Kleinere Glocken seien mit Hämmern zertrümmert, größere gesprengt worden: „Gewöhnlich ertönte die Glocke im Augenblick des Sprengens noch einmal, wie wenn sie ihren letzten Klagelaut von sich gegeben hätte.“

Letztendlich änderte das Umschmelzen der Kirchenglocken nichts am Ausgang des Kriegs. Die konfiszierten, aber bis 1918 noch nicht zerstörten Glocken wurden den Gemeinden wegen der bereits gezahlten Entschädigung in der Regel nicht mehr zurückgegeben. Insgesamt verlief der Erste Weltkrieg trotz der großen materiellen Verluste für die deutschen Kirchen allerdings vergleichsweise glimpflich. Als zwei Jahrzehnte später die Deutschen erneut in den Kampf zogen, um die Welt zu erobern, war Metall wieder eine wichtige Ressource. Die Nationalsozialisten nahmen kaum noch Rücksicht auf kunsthistorische Belange, Glocken wurden rigoros konfisziert. „Dabei ging es auch darum, die örtliche Position der Kirchen zu brechen“, sagt Thomas Wilhelm, Orgel- und Glockensachverständiger der hessen-nassauischen Landeskirche. Von den wenigen in den Türmen belassenen Kirchenglocken wurden später etliche bei den Bombenangriffen auf die deutschen Städte zerstört. Glück hatten wiederum etliche Kirchen, weil der zent­rale Schmelzbetrieb in Hamburg im Bombenhagel zerstört wurde. Durch die akribischen Listen der Nationalsozialisten wanderten so viele Glocken nach Kriegsende wieder in ihre Türme zurück.

In den Jahren nach 1945 machten sich Glockengießer trotzdem die bitteren Erfahrungen zunutze, um Glocken aus minderwertigem Gusseisen zu verkaufen. Sie bewarben ihre Erzeugnisse mit dem Argument, im Kriegsfall würden die nicht beschlagnahmt. Manchen Kirchen im zerstörten Deutschland erschien dieses Argument damals durchaus überzeugend.

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