Mandelblüten im Advent

Wie sich der Klimawandel in Deutschland bemerkbar macht • von Florian Riesterer

Das Pflanzenwachstum hat sich in Deutschland rund zehn Tage nach vorne verschoben, milde Winter lassen Mandeln mitunter schon im Dezember blühen. Foto: LM

Der Hausrotschwanz überwintert teilweise wegen waremer Winter mittlerweile in Deutschland statt am Mittelmeer. Foto: wiki

2016 spürten unter anderem Landwirte in der Vorderpfalz die Kapriolen des Wetters. Foto: Kunz

Vom Eise befreit sind Strom und Bäche | durch des Frühlings holden, belebenden Blick | im Tale grünet Hoffnungsglück | der alte Winter, in seiner Schwäche | zog sich in rauhe Berge zurück“, dichtet Goethe 1808 in seinem Faust zum Osterspaziergang. Ostern fiel damals wie auch dieses Jahr auf Mitte April, eine Zeit, in der in Deutschland der Frühling schon lange Einzug gehalten hat. Mehr noch: Strom und Bäche sind auch im Winter immer seltener von Eis bedeckt, darüber kann auch der kalte Januar dieses Jahres im Süden Deutschlands mit Eisschollen auf Main und Mosel nicht hinwegtäuschen. 1963 waren der Rhein und der Bodensee das letzte Mal fast vollständig zugefroren, während man zu Lebzeiten Goethes fast jeden Winter trockenen Fußes das andere Ufer erreichen konnte.

Das Klima verändert sich, das ist nicht erst seit dem Dokumentarfilm „Eine unbequeme Wahrheit“ mit dem damaligen US-Vizepräsidenten Al Gore deutlich. Im Jahr 2006 erschütterten die Zuschauer Bilder von erschöpften Eisbären auf der Suche nach Packeis. Mittlerweile sind Hitzewellen in der Arktis keine Seltenheit mehr. Auf der anderen Seite vermeldete der Wüstenstaat Katar im Februar mit 1,5 Grad den kältesten je gemessenen Tag. „Wir sind jetzt wirklich auf unerforschtem Territorium“, sagte Ende März David Carlson, Direktor des Welt-Klimaforschungsprogramms der Welt-Meteorologie-Organisation (WMO) angesichts der jüngsten Wetterkapriolen.

Sicher ist, dass in den vergangenen drei Jahren global gesehen in puncto Temperatur ein Rekordjahr auf das nächste folgte, wofür Forscher vor allem das Wetter­phä­no­men El Niño verantwortlich machen. Das hat wohl auch an der verheerenden Dürre in Somalia und Kenia seinen Einfluss. Dazu steigt die Kohlendioxidkonzentration weiter an, die den natürlichen Treibhauseffekt, die Erwärmung der Erdatmosphäre, verstärkt. „95 Prozent aller ernst zu nehmenden Wissenschaftler bestätigen den Klimawandel“, sagt Ulrich Matthes vom Rheinland-Pfalz Kompetenzzentrum für Klimawandelfolgen. Und unstrittig sei, dass diese Erwärmung hausgemacht ist. „Rechnen wir den Einfluss der Menschen heraus, ist der Anstieg nicht zu verzeichnen“, sagt Matthes.

Trotzdem leugnen Klimaskeptiker, darunter etwa das Europäische Institut für Klima und Energie, das als Lobbyorganisation gilt, den menschengemachten Klimawandel und verweisen auf Phasen ähnlicher Erwärmung in der Vergangenheit. Die gab es in der Kreidezeit, zu Beginn des Holozäns um 10000 vor Christus oder zwischen 950 und 1300 nach Christus, erklärt Klimatologe Wolfgang Lähne vom Wetterbüro Klimapalatina in Maikammer. Allerdings sei die Erwärmung nie in dieser Geschwindigkeit fortgeschritten. Deshalb ärgert sich Lähne über die Aussagen von Klimaskeptikern: „Fundamentale physikalische Grundsätze werden negiert, Teilaspekte aus dem Zusammenhang gerissen.“

Besonders kritisch beäugen die Automobilbranche oder Energiekonzerne, die fossile Energieträger fördern, den Klimawandel. Sie sehen sich vor Herausforderungen gestellt, genauso wie die Politik, die sich den Vorwurf anhören muss, mit Klimaschutzprogrammen Jobs zu gefährden. Dabei entstehen solche auch durch Investitionen in erneuerbare Energien. In den USA gab Präsident Trump als erklärter Klimawandelskeptiker jüngst per Dekret den Startschuss, die Klimaschutzpolitik seines Vorgängers Obama rückgängig zu machen. Matthes befürchtet jetzt, dass Internetseiten der Nasa oder der National Oceanic and Atmospheric Administration (NOAA), die gute Klimadaten liefern, künftig nicht mehr frei zugänglich sein werden.

Was sich Klimawandelskeptiker zunutze machen, ist die Tatsache, dass ein nasskalter Frühling in Deutschland als Wetterereignis durchaus Eindruck hinterlässt. Dass die Temperaturen trotzdem im Jahresmittel steigen, lässt sich dagegen nur schwer vermitteln, erklären Matthes und Lähne übereinstimmend. Es sei denn, man beobachtet die Symptome, die sich bemerkbar machen.

So kehren Zugvögel immer früher nach Deutschland zurück, hat die Gesellschaft für Naturschutz und Ornithologie Rheinland-Pfalz beobachtet. „Der erste Schwarzstorch dieses Jahres wurde im Februar gesichtet, so früh wie noch nie“, sagt Vorsitzender Heinz Hesping. Grund sei, dass Vögel ihre Brutquartiere von Afrika in den Mittelmeerraum verlegt hätten. „Teilpopulationen von Zugvögeln wie etwa dem Hausrotschwanz überwintern mittlerweile sogar hier“, sagt Hes­ping. Auf der anderen Seite blieben Vögel, die früher aus dem Norden nach Deutschland zum Überwintern gekommen waren, weg, weil es auch im Norden wärmer wird.

Tatsächlich hat sich der Frühling etwa zehn Tage nach vorne verschoben, belegen Beobachtungen seit Mitte des letzten Jahrhunderts. Und in milden Wintern wie 2015/2016 wird es noch extremer. „Ich habe damals am dritten Advent einen Mandelbaum in voller Blüte gesehen“, erinnert sich Gimmeldingens Ortsvorsteherin Claudia Albrecht. Die frühe Blüte setzte die Ausrichter des dortigen Mandelblütenfests unter Druck. Jährlich zieht das erste Weinfest der Saison in dem Neustadter Ortsteil Tausende Besucher an. Jetzt hatten die Festausrichter Sorge, ob im März noch genügend Mandeln blühten. Dass das Fest eines Tages wegen des Blütehöhepunkts im Februar stattfinden muss, ist nicht auszuschließen. Für Alb­recht aufgrund der oft kühlen Temperaturen in diesem Monat keine schöne Vorstellung: „Oder man müsste Glühwein statt Schorle ausschenken.“

Richtig gefährlich werden mildere Winter für Bienen. „Weil die Tiere bei höheren Temperaturen nicht aneinandergedrängt an den Waben sitzen, können sie Imker nicht wirksam gegen die Varroa-Milbe behandeln“, sagt Klaus Eisele, Vorsitzender des Imkerverbands Rheinland-Pfalz, mit Blick auf den Winter 2015/2016. „Viele Völker sind deshalb im darauffolgenden Winter verendet.“ Auch Wespen machten milde Winter zu schaffen, weil sie nach einem verkürzten Winterschlaf geschwächt aufwachen, jedoch wenig Nahrung finden. Doch Eisele warnt, sich deswegen zu freuen. „Wespen vertilgen viele Schadinsekten, sind unheimlich wichtig.“

Profiteur des Klimawandels könnte die Asiatische Tigermücke sein. Die Kommunale Aktionsgemeinschaft zur Bekämpfung der Schnakenplage (Kabs) beschäftigt sich seit einigen Jahren mit der klimabegünstigten Ausbreitung der exotischen Stechmückenart längs des Oberrheins. Wurden zu Beginn der Forschung vor zehn Jahren in fünf Jahren ein Gelege gefunden, entdeckte er allein im vergangenen Jahr 45 Gelege, sagt Artur Jöst, Projektleiter Exotische Stechmücken bei der Kabs Südwest. Nördlichster Fundort war eine Autobahnraststätte in Bensheim. „Im vergangenen Winter haben Populationen der Asiatischen Tigermücke erstmals im Raum Freiburg in zwei Schrebergartenanlagen überwintert“, sagt Jöst. Die Gefahr, dass die Tiere Krankheiten wie das West-Nil- oder Dengue-Fieber übertragen, ist noch relativ gering. Problematischer sei das aggressive Verhalten der Mücken, die anders als Rheinschnaken auch tagsüber wiederholt stechen. „Einige Parzellenbesitzer in Freiburg wollen deshalb schon verkaufen“, sagt Jöst.

Parallel dazu breitet sich das aus Nordamerika eingeschleppte Beifußblättrige Traubenkraut (Ambrosia) rasant aus – hauptsächlich durch das veränderte Klima begünstigt, haben Forscher der Universität Wien bestätigt. Allergiker kämpfen in milden Wintern mit juckenden und tränenden Augen. „Was bedeutet der Klimawandel für Allergiker und Allergologen?“, ist so auch ein Vortrag überschrieben, den Karl-Christian Bergmann, Al­lergologe an der Berliner Charité und Leiter des Polleninformationsdiensts in Deutschland, bei einem Fachkongress des Ärzteverbands Deutscher Allergologen im Mai im hessischen Kloster Eberbach halten wird. Denn nicht nur Ambrosia ist ein Problem. „In experimentellen Studien wurde die positive Korrelation zwischen steigenden Kohlendioxidkonzentrationen, Temperaturen und der Pollenkonzentration beziehungsweise der Biomasse von Pflanzen nachgewiesen“, sagt Ludger Klimek, Präsident des Ärzteverbands Deutscher Allergologen.

Weil wie beim Thema Pollen Klimaphänomene nicht an Bundeslandgrenzen haltmachen, arbeiten unter anderem Forscher in Hessen und Rheinland-Pfalz zusammen. Das Institut für Atmosphäre und Umwelt (IAU) der Goethe-Universität Frankfurt beschäftigt sich noch bis Sommer 2018 mit Unwettern, die Starkregen, Hagel- und Blitzschlag mit sich bringen. Im Projekt mit dem sperrigen Namen „Konvektive Gefährdung über Hessen und Rheinland-Pfalz“ kooperieren neben dem IAU und dem Klima-Kompetenz­zent­rum Rheinland-Pfalz das Hessische Landesamt für Umwelt und Geologie, das Landesamt für Umwelt Rheinland-Pfalz und die Abteilung Hydrometeorologie des Deutschen Wetterdienstes.

Auf der anderen Seite werden viele Standorte ab 2050 im Sommer dramatisch unter Trockenstress leiden, erklärt Matthes. „Dann muss stark zusätzlich bewässert werden.“ Bei Zuckerrüben werde sich das besonders bemerkbar machen. Anderen Kulturen fehle durch die milderen Winter der für das Wachstum wichtige Frostreiz. Schädlinge und Krankheiten breiteten sich leichter aus, neue Arten aus dem Mittelmeerraum wanderten ein. Diese Prognosen finden sich bereits im Klimawandelbericht 2013 des Landes Rheinland-Pfalz und im Integrierten Klimaschutzprogramm Hessen aus dem Jahr 2012. Vorausgesagt wird in beiden Berichten ein Anstieg des Jahresniederschlags, der sich allerdings nur im Frühling, Herbst und Winter bemerkbar macht. Die Sommer werden trockener. Rheinhessen, der Oberrheingraben und das Koblenz-Neuwieder Becken gelten als besonders anfällige Regionen. Das bestätigt auch Lähne, der mit zwei Kollegen Klimadaten aus Mannheim, Karlsruhe und Frankfurt seit Mitte des 18. Jahrhunderts untersucht hat.

Solche Klimaprognosen kennt Johannes Zehfuß, Vizepräsident des Bauern- und Winzerverbands Rheinland-Pfalz Süd. Schließlich ist er Gemüse- und Kartoffelbauer. Bei der Zuckerrübe habe sich der Aussaattermin die vergangenen zehn Jahre einige Tage nach vorne geschoben. Daran hätten aber auch technische Verbesserungen beim Anbau ihren Anteil. Ob die frühere Aussaat die kommenden Jahre so bleibe und sinnvoll sei, stellt er aber dahin. Schließlich gebe es nach wie vor Spätfröste. Ähnlich wird dies im Weinbau gesehen. Zehfuß blickt Klimaprognosen gelassen entgegen. Bei Trockenheit könnten Landwirte beregnen, mehr Niederschlag käme dem Oberrheingraben zugute. Große Hoffnung setzt er in Pflanzenneuzüchtungen, die resistent gegen klimabedingte Schädlinge und Krankheiten und an veränderte Temperaturen und Niederschläge angepasst sein könnten. Mit das größte Problem seien lokale Unwetterereignisse wie im Frühjahr 2016 in der Vorderpfalz, die einen Betrieb ruinieren könnten. Hier könnte die Politik den Anreiz für Landwirte erhöhen, eine Elementarschadensversicherung abzuschließen.

Wohin sich das weltweite Klima ent­wickelt, bleibt trotz aller Prognosen offen, sagt Klimatologe Lähne. Skepsis sei aber immer dann angebracht, wenn der Einfluss des Menschen völlig außer Acht gelassen werde. Die Autoindustrie in Deutschland tut sich etwa beim Thema Hybridantrieb noch schwer. Nicht nur deshalb zeigte erst vor wenigen Wochen eine neue Studie des Umweltbundesamts, dass die Treibhausgas-Emmissionen 2016 erneut zugenommen haben, die das Eis an den Polen weiter schmelzen lassen werden.

„Der Winter ist ein rechter Mann, Kernfest und auf die Dauer“, dichtete Matthias Claudius Ende des 18. Jahrhunderts. Womöglich können Forscher in ferner Zukunft anhand der Literatur das einstige Klima in Deutschland rekonstruieren. Oder am Namen der Pflanzenart: Denn mittlerweile blühen Märzenbecher mitunter schon im Februar.

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