Was würde Jesus dazu sagen?

Gegner Hitlers, Kirchenpräsident und pazifistische Nervensäge – am 14. Januar ist Martin Niemöllers 125. Geburtstag - von Martin Vorländer

Als Prediger hat Martin Niemöller viele Zuhörer gepackt – hier auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag 1956 in Frankfurt. Fotos: epd/Hans Lachmann

So sah Niemöller 1947 aus, als die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau gegründet und er deren erster Kirchenpräsident wurde.

Der Mann spaltete die Geister. Für die einen war der ehemalige U-Boot-Kommandant ein großer Widerstandskämpfer und Vater der Friedensbewegung. Die anderen brachte der politische Protestant auf die Palme. Martin Niemöller selbst bewegte vor allem eine Frage.

Auf Fotos sieht man ein scharf geschnittenes Kinn und einen wachsamen Blick unter buschigen Augenbrauen. Er könnte streng aussehen, läge da nicht ein leises Lächeln auf seinen Lippen. Martin Niemöller war ein Pfarrer, der die Kirche gefüllt und die Leute mit seinen Predigten gepackt hat. Als Gemeindepfarrer in Berlin-Dahlem gehörte er zu den wenigen in der evangelischen Kirche, die gegen Hitler Widerstand leisteten. Er war acht Jahre lang im Konzentrationslager als „Hitlers persönlicher Gefangener“. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er der erste Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. Im Ausland galt er als „der gute Deutsche“ und „Prophet des Friedens“. Die nordamerikanischen Ponca-Indianer gaben ihm den Ehrennamen „Oo-duh-mah-thee-a“, übersetzt „Der auf dem rechten Weg wandelt“. Der damalige Ostblock zählte ihn, den Pfarrer aus der Bundesrepublik, zu den „großen Sternen der Völkerfreundschaft“.

Das waren die freundlichen Beschreibungen. „Landesverräter“, schimpfte Konrad Adenauer über Niemöller. Der damalige Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß zeigte ihn wegen Verleumdung der Bundeswehr an. Niemöller hatte die Atombombe eine Gotteslästerung und die Ausbildung zum Soldaten „die Hohe Schule für Berufsverbrecher“ genannt. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Jesus ihm auf die Frage „Was soll ich tun?“ antwortet „Nimm und wirf eine Atombombe!“. Was würde Jesus dazu sagen? Diese Frage hat Niemöller angetrieben.

Widerstandskämpfer und Pazifist – das war ihm nicht in die Wiege gelegt. Im Gegenteil. 14. Januar im Jahr 1892 im westfälischen Lippstadt: Dem lutherischen Pfarrer Heinrich und seiner Frau Paula wird ein zweites Kind geboren, ihr Sohn Martin. Die Niemöllers verstehen sich als absolute Preußen, konservativ und kaisertreu. Martin kann es nach dem Abitur nicht erwarten, zur Marine zu kommen. Damals sagte man: „Ein guter Christ ist immer zugleich ein guter Soldat.“ Daran zweifelt der junge Niemöller nicht. Rebellion leistet sich der pflichtbewusste Marineoffizier nur aus Patriotismus. 1919, der Erste Weltkrieg ist verloren. Niemöller soll sein U-Boot an den Sieger Großbritannien ausliefern. Er weigert sich: „Herr Commodore, ich melde gehorsamst, dass ich einen Befehl bekommen habe, den ich nicht ausführen werde.“ Ungehorsam aus Gehorsam. Damals galt Niemöllers Verpflichtung bedingungslos dem Vaterland.

Der Traum vom Marineleben ist ausgeträumt. Nun will der 27-Jährige Bauer werden. Die Inflation macht einen Strich durch die Rechnung, er kann es sich nicht leisten, Land zu pachten oder gar zu kaufen. Da studiert Niemöller Theologie und wird Pfarrer – wie sein Vater. Erst arbeitet er bei der Inneren Mission in Westfalen. Dann wird er 1931 Gemeindepfarrer in Berlin-Dahlem. Pfarrer zu werden, bedeutet keinen Bruch. Niemöller wollte ein treuer Soldat sein. Jetzt dient er treu dem Evangelium. Eben diese Treue bringt ihn in den Widerstand gegen Hitler.

1933 wählt er noch die Nationalsozialisten. Doch dann will der NS-Staat auch die Kirchen gleichschalten. Der Arierparagraf soll in der Kirche eingeführt werden. Das bedeutet: Christen jüdischer Herkunft dürfen keine Pfarrer mehr sein und sollen aus der Kirche herausgedrängt werden. Dagegen protestiert Martin Niemöller und gründet den Pfarrernotbund, der später zur Bekennenden Kirche wird.

Am 25. Januar 1934 empfängt Adolf Hitler eine Gruppe von leitenden Kirchenvertretern. Niemöller ist als einziger Gemeindepfarrer dabei. Hitler herrscht die Protestanten an: „Die Sorge um das Dritte Reich überlassen Sie mir. Kümmern Sie sich um die Kirche!“ Niemöller sagt beim Abschied zu Hitler: „Die Verantwortung fürs deutsche Volk, die können wir nicht weggenommen bekommen, die hat Gott uns auferlegt, und kein anderer als Gott kann die von uns wegnehmen, auch Sie nicht.“

Es ist ein weiter Weg, den Niemöller zurückgelegt hat. Vom Offizier, der die Obrigkeit für gottgegeben hält, zu dem Pfarrer, der Hitler ins Gesicht widerspricht. Er hält sich an den Bibelvers aus der Apostelgeschichte: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (Apostelgeschichte 5, 29). Für Niemöller war das eine Lebenshaltung. Der Glaube an Gott und die Nächstenliebe stehen über jedem Befehl, über jedem Machthaber, über jeder Form von Herrschaft, ob Diktatur oder Demokratie. Jenseits von Konfessionen und kirchlicher Lehre kommt es auf den gelebten Glauben an und auf das, was man für seinen Mitmenschen tut.

Hitler tobt über Niemöllers Widerspruch: „Der Pfaffe soll sitzen, bis er schwarz wird!“ Niemöller bekommt Predigtverbot. Ihm wird 1937 der Prozess gemacht, der zwar glimpflich ausgeht. Doch Hitler sorgt dafür, dass Niemöller ins Konzentrationslager kommt, als „Hitlers persönlicher Gefangener“ erst ins KZ Sachsenhausen, dann nach Dachau. Acht Jahre lang ist seine Frau Else mit sieben Kindern allein im Dahlemer Pfarrhaus und bangt um ihren Mann. Die Alliierten befreien Niemöller 1945.

Er könnte sich als kirchlicher Widerstandskämpfer rühmen. Doch ausgerechnet Niemöller treibt voran, dass die evangelische Kirche sich zu ihrer Schuld bekennt. Er formuliert und unterschreibt mit anderen das Stuttgarter Schuldbekenntnis. Darin sagen die evangelischen Kirchenvertreter: „Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden … Wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“

Manche kritisieren heute, das wäre viel zu allgemein und darum schwach formuliert. Der Holocaust kommt explizit nicht vor. Aber für viele Deutsche nach dem Zweiten Weltkrieg ist das schon zu viel. Ob sie es hören wollen oder nicht, Martin Niemöller spricht die Schuld aus. Im Hungerwinter 1945/1946 sagt er in einem Vortrag: „Es gibt viel Jammer über unser Elend, über unseren Hunger, aber ich habe in Deutschland noch nicht einen Mann sein Bedauern aussprechen hören … über das furchtbare Leid, das wir, wir Deutsche, über andere Völker gebracht haben, über das, was in Polen passierte, über die Entvölkerung von Russland und über die 5,6 Millionen toten Juden!“ Im Publikum Buh, Scharren, Zwischenrufe „Und die Schuld der anderen?“. Niemöller lässt sich nicht beirren und setzt nach: „Das steht auf unseres Volkes Schuldkonto.“ Er geht auch mit sich selbst ins Gericht. Sein Widerstand gegen die Nazis hat erst begonnen, als es um seine eigene Kirche ging. Was Hitler den anderen angetan hat, merkte er erst, als es ihm selbst an den Kragen ging.

Niemöller bekennt, dass er selbst früher antisemitisch gedacht hat. Juden seien ihm nicht sympathisch gewesen. Sein Protest richtete sich am Anfang dagegen, dass der Nazi-Staat in die Kirche eingegriffen hat. Erst viel später sei ihm aufgegangen, „dass ich als Christ nicht nach meinen Sympathien oder Antipathien mich zu verhalten habe, sondern dass ich in jedem Menschen, und wenn er mir noch so unsympathisch ist, den Menschenbruder zu sehen habe, für den Jesus Christus an seinem Kreuz gehangen hat genauso wie für mich, was jede Ablehnung und jedes Antiverhalten gegen eine Gruppe von Menschen irgendeiner Rasse, irgendeiner Religion, irgendeiner Hautfarbe einfach ausschließt“.

1960 fordert Niemöller dazu auf: „Leistet überall und immer tapferen Widerstand, wo es um den Menschen geht.“ Das hat Niemöller als erster Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau getan. Der kaisertreue Reaktionär wurde zum Revolutionär. Im Alter von 62 Jahren wurde er, der frühere U-Boot-Kommandant, zum radikalen Pazifisten. Er hatte mit Otto Hahn und anderen Atomphysikern gesprochen und war seither überzeugt: Die Zeit, in der es so etwas wie einen gerechten Krieg vielleicht gegeben hat, ist vorbei. Mit Nuklearwaffen kann der Mensch die Menschheit auslöschen. Er reiste in die USA, nach Australien und Afrika und in den Ostblock.

Schon 1952 fährt er auf Einladung der russisch-orthodoxen Kirche nach Moskau. Auch damit machte er sich viele Feinde. „Niemöller, zurück nach Moskau, dawai, dawai!“ Mit solchen Schildern wurde er bei seiner Rückkehr empfangen und als Vaterlandsverräter beschimpft. Martin Niemöller aber ging es darum, Löcher im Eisernen Vorhang zu finden, durch die der Friede schlüpfen kann.

„Evangelium ist Angriff“, hat er auf eine seiner Postkarten aus dem Konzentrationslager geschrieben. Man hört deutlich den preußischen Soldaten. Aber das Vorzeichen hat sich entscheidend verändert. Niemöller predigte keinen heldischen Christus. Er sagte: „Der Herr … ist kein machtvoller Befehlshaber und kämpft nicht mit Waffen, sondern mit der Liebe“ (Predigt von 1933). Kirche mit Martin Niemöller ist nicht kuschelig. Sie zeigt Kante. Sie hat Haltung und protestiert, wo Menschen kleingemacht werden.

Niemöller war unbequem, eine moralische Nervensäge. Viele fanden den Kirchenmann zu politisch. Auf der Kanzel beim Predigen allerdings hat er nur selten politische Forderungen aufgestellt. Dafür wurde er in Interviews und Vorträgen deutlich. Glaube umfasst für Niemöller alle Bereiche: „Für uns Christen geht es um das ganze Leben“, das wirkliche Leben inmitten der Welt. Darum ist christliche Verantwortung auch politische Verantwortung. Glaube meint für Niemöller immer den Einzelnen. Kollektives Denken hat da keinen Platz. Niemöller war politisch und fromm. Sein Glaube war ganz und gar auf Christus bezogen.

Was würde Jesus dazu sagen? Martin Niemöller ist neun Jahre alt, als ihm die Frage das erste Mal begegnet. Der kleine Martin darf mitkommen, als sein Vater, der Pfarrer, einen Krankenbesuch bei einem Textilarbeiter macht. Da steht die Frage als frommer Spruch mit Glasperlen auf Samt gestickt. Man kann die Frage naiv finden. Als könnte man Jesus aus Galiläa über 2000 Jahre hinweg ins Heute holen. Als müsste man nur im Neuen Testament nachschlagen, was Jesus gesagt hat – zur Feindesliebe für Terroristen, zum Flüchtlingsabkommen mit der Türkei, zu aktiver Sterbehilfe.

Doch Niemöller war nicht naiv. Die Frage war sein ethischer Maßstab. Sie hilft, die Antworten von gestern zu prüfen und herauszufinden, was heute notwendig ist. Sie hat Niemöller darin gestärkt, nicht nachzuplappern und mitzumachen, was alle sagen und tun. Sie war sein Kompass, der ihm zeigte: Hier musst du Widerstand leisten. Weil es um den Menschen geht.

 

 

Als die Nazis die anderen holten

„Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist. Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Sozialdemokrat. Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Gewerkschafter. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“ Martin Niemöller, 1976

 

 

 

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