Das Herz von Waldböckelheim

Lebkuchen der Bäckerei Andrae sind auch in der Nord- und Westpfalz beliebt – Jährlich 15 Tonnen Teig

Lebkuchenproduktion am laufenden Band: Bäckermeister Ralf Andrae (links) mit Mitarbeiter Mike Bieser. Foto: Löffel

Man nehme: Mehl und Honig und …? Stopp – das Rezept für die Waldböckelheimer Lebkuchen verrät Bäckermeister Ralf Andrae natürlich nicht. Zumindest nicht ganz. Seit 1970 ist der Familienbetrieb in der Ortsgemeinde im Landkreis Bad Kreuznach als einziger im Besitz der Rezeptur, mit der die längst über die nordpfälzische Region hinaus beliebten Lebkuchen gebacken werden. Herzen am laufenden Band entstehen in der Backstube des 43-Jährigen, kleine und große, mit und ohne Schokolade.

So schlicht die Waldböckelheimer Lebkuchen schon seit jeher daherkommen, so begehrt ist das Traditionsgebäck bei den Kunden. „Wir produzieren 15 Tonnen Lebkuchen im Jahr“, berichtet Andrae. Ab August wird gebacken – mindestens achtmal pro Woche. Zu den Hauptabnehmern gehören die Globus-Märkte in Rheinland-Pfalz und im Saarland sowie Rewe, Real und unterschiedliche Bäckereien. So liefert Andrae auch in die Nord- und Westpfalz aus. In Rockenhausen gibt es Kunden wie auch in Baumholder etwa die Bäckerei Kohl, die Filialen rund um Kusel bedient. Auch in Hessen hat Andrae inzwischen Abnehmer. Und der Bad Sobernheimer Regionalhistoriker Hans-Eberhard Berkemann erinnert sich, wie er einer jüdischen Familie, die während der Nazi-Zeit in die USA emigrieren musste, Waldböckelheimer Lebkuchen geschickt hat: „Das war für sie ein Stück Heimat.“

Ralf Andrae drückt den Teig durch eine Öffnung auf die schwere Walze. Langsam gleitet Herz für Herz aufs Band. Von hier aus geht es Richtung Backofen. 700 Lebkuchen passen hinein. Wenige Minuten bei 260 Grad, und „die Echten aus Waldböckelheim“ sind fertig. Beim Teig handelt es sich übrigens um einen Lagerteig, erklärt der Fachmann. „Der liegt bis zu einem Jahr.“ Da der Honig kristallisiert, wird der Lebkuchenteig sehr fest. Doch wie bei einem guten Tropfen Wein, entfaltet sich das Aroma erst mit der Zeit. Eines der Geheimnisse besteht darin, den Lagerteig mit frischem Teig zu mischen. Dies übernimmt ein wahrer Kraftmeier: Der „Z-Kneter“ bewältigt 125 Kilo Teig.

Die Rohstoffe erhält Andrae aus der Region: Honig und Mehl sind die Hauptzutaten, gewürzt wird unter anderem mit Kardamom, Anis, Zimt, Sternanis und Muskat. „Die Gewürze bekommen wir von der Gewürzmühle aus Mannheim“, berichtet der Bäcker- und Konditormeister.

In früheren Zeiten waren Klosterbrüder die ersten Lebkuchenbäcker. In Klöstern, in denen Hostien produziert wurden, nutzten die Mönche Oblaten auch für Lebkuchen. Die Kuchen galten damals nicht etwa als Süßigkeit, sondern durch ihre verdauungsfördernde, appetitanregende Wirkung als Heil- und Arzneimittel. Zudem war Honig nach der Mythologie der Ägypter, Griechen, Römer und Germanen eine „Gabe der Götterwelt“. Auch in der Bibel ist die Rede vom „gelobten Land, in dem Milch und Honig fließt“. Dem Honig wurde also als göttlicher Gabe einst dämonenvertreibende, heilende und lebensspendende Wirkung zugeschrieben. Deshalb wurden Produkte mit Honig besonders in der Fastenzeit genossen. Auch im Advent. Und weil sie lange haltbar waren.

„Sie sollen ruhig ein bisschen fester werden“, rät Andrae, die Lebkuchen nicht ganz frisch zu verzehren. Für diverse Plätzchensorten und auch Stollen – nach Rezept seines Großvaters – ist derzeit ebenfalls Hochsaison in seiner Backstube. Allerdings ist das Traditionsgebäck in Herzform das Aushängeschild der Region, zeigt sich der stellvertretende Obermeister der Bäckerinnung Rhein-Nahe-Hunsrück überzeugt.

Die Bäckerei in der Hauptstraße 7 ist seit 1950 im Besitz der Familie Andrae. Die Brötchen heißen hier schlicht „Karlchen“, nach dem Vater und Großvater. Lebkuchen machen laut Andrae heute rund 20 Prozent des Gesamtjahresumsatzes aus. Andrae betreibt neben dem Stammsitz in Waldböckelheim noch sechs Filialen. In Zeiten, in denen kleine Bäckereien häufig nicht mehr überleben können, übernahm er bereits Betriebe von Kollegen. Insgesamt beschäftigt er 25 bis 30 Personen. „Ab August kommen etwa zehn Saisonkräfte hinzu“, sagt Andrae. Hausfrauen, Schüler, auch Familienangehörige helfen bei der Lebkuchenproduktion mit.

Waldböckelheim und Lebkuchen – beides gehört schon lange fest zusammen. „Lebkuchen gibt es bei uns, solange ich denken kann“, sagt Andrae. „An der Hauptstraße hat es früher viele Lebkuchenfabriken gegeben“, weiß er. Lebkuchen aus dem 2200-Einwohner-Ort im Nahetal waren auf der Weltausstellung und seien im Zweiten Weltkrieg auch an die Front geliefert worden. Die Lebkuchenfabrik Dietz produzierte seit 1760 in Waldböckelheim. Später eröffnete sie eine Bäckereifiliale in Bad Sobernheim. 1970 übernahm die Familie Andrae die Produktion, nachdem sie das Rezept vom Bäckermeister im Ruhestand der Sobernheimer Filiale erhielt. Die Rezeptur ist all die Jahre unverändert geblieben.

Satt werden die Kunden davon wohl nie werden. Die Nachfrage boomt – nicht nur in der Weinbaugemeinde. Dennoch weitet Andrae die Saison nicht aus. „Im Mai backen?“ Nein, das kommt für ihn nicht infrage. „Lebkuchen haben ganz klar etwas mit der Weihnachtszeit zu tun“, findet er. Stressig ist die Saison schon, räumt der Lebkuchenbäcker ein. Aber auch schön: „Wenn man in den Ort kommt, riecht es schon nach den Gewürzen.“ So duftet Weihnachten. Susanne Cahn

Von antiker Leckerei zu modernem Kulturgut

Die Geschichte der Lebkuchen beginnt mit dem Honigkuchen, der schon den Menschen in der Antike mundete.

Früher waren es nicht die Bäcker, die Lebkuchen herstellten. Ab dem 12. Jahrhundert übernahmen eigene Zünfte die Fertigung. Man nannte sie Lebküchner, Lebküchler, Lebzelter oder – sogar bis zur Wende in der früheren DDR – auch Pfefferküchler. Wurden die Lebkuchen vor dem 16. Jahrhundert noch in Ton-, Stein- oder Holzmodeln geformt, begann man später, den Teig auf Oblaten zu setzen. Er wurde dann mit Nüssen und Mandeln – deren Schale und Kern Tod und Auferstehung symbolisieren – angereichert. Als Gewürze wurden Anis, Kardamom, Koriander, Muskat, Nelken und schwarzer Pfeffer verwendet. „Pfeffer“ nannten die Lebkücher alle Gewürze.

Im 16. Jahrhundert entwickelte sich die Lebküchnerei zum Gewerbe. Lebkuchenzentren entstanden unter anderen in Aachen, Nürnberg und Pulsnitz. Mit der Erfindung der Dampfmaschine konnten Lebkuchen im 19. Jahrhundert in größeren Mengen hergestellt werden. Sie sind längst ein Kulturgut geworden. Ob das hebräische Wort lev (Herz) mit dem Gebäck etwas zu tun hat, bleibt unklar. Seinen Namen hat der Lebkuchen vermutlich von dem lateinischen Wort libum, was so viel wie Fladen, Flachkuchen oder Opferkuchen bedeutet.

Man unterscheidet braune Lebkuchen und Oblatenlebkuchen. Die braunen Kuchen – darunter Pfeffernüsse, Spritzkuchen, Printen und Herzen – aus Knetteigen enthalten viel Mehl. Oblatenlebkuchen sind Makronen ähnlich. Sie werden oft mit Eiern und Nüssen gebacken und können auch ohne Mehl hergestellt werden.

Nach Angaben des Bundesverbands der Deutschen Süßwarenindustrie verzehren die Deutschen rund 840 Gramm Marzipan- und Zimtleckereien pro Kopf im Jahr. 2014 wurden rund 82 000 Tonnen produziert. Beim Herbstgebäck nehmen Lebkuchen vor Spekulatius und Stollen die erste Stelle in der Gunst der Verbraucher ein. suca

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