Musik von der Wiege bis zur Bahre

Bezirkskantoren im Porträt: In Bad Dürkheim leistet Jürgen E. Müller äußerst vielfältige Ensemblearbeit

Dirigiert die Bad Dürkheimer Kirchenmusik seit fast vier Jahrzehnten: Kirchenmusikdirektor Jürgen E. Müller. Foto: Franck

Nur wenige Wochen fehlen, und die 40 Dienstjahre wären komplett – wenn der Bad Dürkheimer Kirchenmusikdirektor Jürgen E. Müller am 30. April 2017 in den Ruhestand verabschiedet wird, scheidet der mit Abstand dienstälteste Bezirkskantor der pfälzischen Landeskirche aus dem Amt. Ein Rückblick.

Die ersten Jahre waren Aufbaujahre. Die Stelle des hauptamtlichen Kantors war eben erst eingerichtet worden, zudem stand eine umfangreiche Renovierung der zentralen Schlosskirche inklusive Orgel an. Der junge Kantor nutzte das Interim in der Burgkirche unbeirrt zu Pflege und Ausbau seiner Ensembles: der seit nahezu 100 Jahren existierenden (noch übersichtlichen) Kantorei, des Posaunenchors und der Kurrenden. 1978 schon reichten die Kapazitäten, um zusätzlich einen Kammerchor, die „Kleine Cantorey“, ins Leben zu rufen.

Mit der Wiedereinkehr in die verjüngte, von barockem Ballast entledigte Schlosskirche und der Einweihung der neuen Ott-Orgel 1983 konnte Müller „so richtig loslegen“. Das Kernstück seines vielgestaltigen Wirkens ist bis heute die Kantorei, die längst auf eine Stärke von circa 70 Singenden angewachsen ist, ihre regelmäßigen Dienste bei der Gottesdienstgestaltung (zwölf bis 14 sind das), aber auch ein bis zwei große Konzerte im Jahr absolviert. Die einschlägigen Repertoire-Stücke zwischen Händels „Messias“ und Honeggers „Roi David“ hat Müller mit seinen Ensembles über die Jahrzehnte sämtlich dirigiert. Und dazu eine stattliche Anzahl aparter Nebengleise beschritten.

Mit dem Kammerchor schreitet Müller quer durch die Epochen, vorwiegend geht es um anspruchsvolle A-cappella-Literatur, „aber auch eine Bach’sche h-Moll-Messe in kleiner Besetzung gab es schon“. Da dieser Chor projektbezogen arbeitet, variiert die Besetzung je nach Werkauswahl zwischen zwölf und 40 Stimmen. Die Nachwuchsformation wiederum, die Kurrenden, probt in zwei Altersgruppen, und zum spielerischen Einstieg in die Welt der Klänge gibt es – geleitet von Müllers Mitarbeiterin Heidrun Heilmann – für die Kleinsten die Gruppe „Regenbogen“, die schon Kindertagesstättenkinder ab drei Jahren bedient. Damit nicht genug: Auch eine Seniorenkantorei hat sich seit geraumer Zeit formiert: Als „Derkemer Spätles“ kommen rund 50 ehemalige Kantoreimitglieder zwei- bis dreimal im Monat zu vormittäglicher Stunde zusammen und proben weltliche und geistliche Literatur – „ein etwas leichteres, aber keineswegs anspruchsloses Programm“, wie Müller versichert. Highlight im Auftrittskarussell ist das in jedem Jahr ausverkaufte Weihnachtsevent: Ein gemeinsam mit den Kurrenden gestaltetes „Konzert bei Kerzenschein“.

Nicht fehlen darf im Kaleidoskop der Ensembles ein Posaunenchor. Den hat Müller aufgepeppt und über lange Jahre auch geleitet. Jetzt steht Sebastian Schipplick am Pult der Bläser, ein „echter Profi, der auch eine wunderbare Jugendarbeit macht“. Und schließlich – das rundet den Reigen ab – gibt es seit 25 Jahren das Kantatenorchester Bad Dürkheim, „mehr zufällig aus einem Projekt mit jungen Instrumentalisten entstanden“, erinnert sich Müller. Doch die Orchestergemeinschaft hat sich etabliert, bringt es bei Bedarf mit 50 Spielern auf komplette sinfonische Stärke. Bei vielen Kantorei-Konzerten fungierte sie als kompetenter Partner und profiliert sich auch wenigstens einmal pro Jahr mit einem eigenen Programm.

„Von der Wiege bis zur Bahre – unser Musizierangebot ist generationenübergreifend“, so Müllers schlichter Kommentar. Und in der Tat, man staunt nicht schlecht: Zwischen 16 und 20 Veranstaltungen pro Monat präsentiert die Dürkheimer Kirchenmusik, teils natürlich auch mit Gästen. Dabei ­spielen die von Jürgen E. Müller früh etablierten Reihen eine gewichtige Rolle. Die Seebacher Abendmusiken beispielsweise in der kleinen Kirche auf halber Höhe zum Martin-Butzer-Haus, die zur Sommerzeit unvermindert Besuchermagnet sind. Oder die Inter­nationalen Orgeltage Bad Dürkheim, die seit Jahren mit zum Teil großen Interpretennamen locken, dem Amerikaner David Burton Brown etwa oder Roman Perucki, Danzig.

Und selbstverständlich ist auch Müller selbst instrumental „Hansdampf in allen Gassen“, spielt die Orgel meisterlich, fungiert als Kammermusikpartner zu Flöte, Oboe oder Trompete, arrangiert, organisiert, bastelt Gesprächskonzerte oder nimmt auch mal als Rezitator das Mikro in die Hand.

Ausgedehnte Konzertreisen, vor allem mit der „Kleinen Cantorey“, aber ebenso als Organist, haben Müller weit in Europa herumgeführt, mit einem kleinen Schwerpunkt auf Skandinavien. „Es sind im Laufe der Jahre unzählige wertvolle Kontakte entstanden, zu großartigen Künstlern, zu Ensembles; das hat uns Türen geöffnet in Schweden, Polen, England, Frankreich und weiter.“ Und damit, mit dem Reisen, werden Jürgen E. Müller und seine Frau ab dem nächsten Frühjahr ganz ohne amtliche Verpflichtungen womöglich erst richtig loslegen. Gertie Pohlit

Die Schätze unter der Oberfläche des Gängigen

Unter der Oberfläche des reichen kirchenmusikalischen Fundus schlummert(e) so manche Perle. Entdeckernaturen wie der Bad Dürkheimer Kirchenmusikdirektor Jürgen E. Müller sind es, die zuweilen großartige Werke zutage fördern und wieder zu einem Platz in den Repertoires verhelfen. Neugierde und Beharrlichkeit braucht es, außerdem Mut, den bequemen Weg des Gängigen, Gefälligen gelegentlich zu verlassen. Das alttestamentarische „Hiob“-Oratorium für Soli, Chor und Orchester des romantischen Komponisten Carl Loewe (1796 bis 1869) ist hierfür ein signifikantes Beispiel.

Im März 2005 haben die Kantorei an der Schlosskirche, Solisten und Heidelberger Kantatenorchester unter Müllers Leitung dem großartigen Werk zu seiner sechsten Aufführung überhaupt, dazu der weltweit einzigen CD-Einspielung (Mitschnitt) verholfen. Vorausgegangen waren umfangreiche Recherchen, Kontaktaufnahmen zu Archiven (Carl-Loewe-Gesellschaft in Sachsen, Händel-Haus Halle), Sichtung des teils fragmentarischen, handschriftlichen Notenmaterials und wochenlanges Abschreiben und Korrekturlesen von Stimmen zur Erstellung der Partitur, die wiederum Grundlage für die Drucklegung eines Klavierauszugs war.

Es waren engagierte Kantorei-Mitglieder, die diese akribische Arbeit leisteten und mit der Rekonstruktion auch Voraussetzungen für weitere Aufführungen schufen. „Das Copyright bleibt bei der Gemeinde, die Nachfragen anderer Ensembles aber waren rege (zehn bis zwölf Aufführungen seit 2005), sodass die Klavierauszüge allmählich knapp werden“, so der Kantor.

Derart mühsam war der Weg nicht immer, aber ein Spürnäschen fürs gehaltvoll Abseitige im Kontext Oratorium brauchte es stets: Max Bruchs „Moses“ wäre da exemplarisch zu nennen oder auch „Avoded Hakodesc“ (jüdische Sabbat-Liturgie) des schweizerisch-amerikanischen Komponisten Ernest Bloch. Neue Räume, die es lohnten, geöffnet zu werden. gpo

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