Auferstehung – Mitten im Leben

Von der Kreuzigung zur Himmelfahrt: Beim Isenheimer Altar schaut der Betrachter zunächst auf das Bild der Kreuzigung - Wird der Flügel geöffnet, erscheint die Auferstehung des Gekreuzigten

Die drei Schauseiten des Isenheimer Altars, der in der Dominikanerkapelle des Museums Unterlinden im elsässischen Colmar ausgestellt ist. Fotos: epd

Christus als aufgehende Sonne: Die Auferstehung im rechten Außenflügel des Isenheimer Altars von Matthias Grünewald im Unterlindenmuseum im elsässischen Colmar.

von Paul Metzger

Wenn ein kranker Mensch bei den Antonitern in Isenheim Hilfe suchte, wurde er vor den Altar geführt, der in der Kapelle des Ordens stand. Das stellte den Beginn der Behandlung dar. Allein das Betrachten des Altars sollte zur Heilung beitragen. Die Kranken werden also – je nach Ablauf des Kirchenjahres – mit der qualvollen Kreuzigung Christi konfrontiert und können sich in seinem Leid selbst erkennen. Sobald die Flügel des Altars aber aufgeklappt werden, sehen sie das Ziel ihrer Hoffnung. Der Altar erreicht dann seine größte und äußerst beeindruckende Weite. Auf der Mitteltafel sind in dem Fall das „Engelskonzert“ und die „Menschwerdung“ Christi zu sehen. Auf der vom Betrachter aus gesehen linken Seite sieht man die Verkündigung des Engels an Maria und auf der rechten Seite die Auferstehung. Die Auferstehung ist der Zielpunkt der Blickrichtung. Der Kontrast zwischen Tod und Leben Christi wird vor Augen geführt.

Die Hoffnung der Kranken ist damit auf die Auferstehung Christi gerichtet. Mitten im Leben sind sie zwar vom Tod umfangen, aber die Auferstehung Christi zeigt ihnen, dass der Tod nicht das letzte Wort hat. Die Frage der Kranken nach ihrem eigenen Schicksal wird auf diese Weise durch den Altar beantwortet. Aufgeklappt offenbart der Altar die hoffnungsvolle Zukunft: das Leben, das den Kranken durch den Glauben eröffnet wird.

Das Bild der Auferstehung Jesu ist die Hoffnung der Kranken. Es zeigt den Moment der Auferstehung, der in keinem der neutestamentlichen Evangelien erzählt wird, und gleichzeitig die Himmelfahrt Jesu. Die Grabplatte ist weggeschoben und nach hinten gekippt. Trotzdem sind die Wächter, die das Grab nach Matthäus 27, 66 bewachen, noch schlaftrunken. Sie wenden sich von dem Licht Christi ab, zeigen aber keine Verwunderung und kein Erschrecken. Sie haben die Auferstehung Jesu noch nicht wahrgenommen. Diese scheint nur demjenigen einsichtig, der Christus bereits gesehen hat, der von ihm die Augen geöffnet bekam.

So geht es dem Betrachter. Er wird von dem auferstandenen Christus direkt angeblickt. Christi Arme sind zum Segen erhoben. Er zeigt seine Wundmale, die ihn als den gekreuzigten Jesus von Nazareth ausweisen. Sein Kopf bildet den Mittelpunkt eines Lichtkranzes, der die Göttlichkeit Jesu anzeigt. Von ihm gehen warme Farben aus, die dem Betrachter Hoffnung und Ruhe signalisieren. Fast geht Jesu Gesicht in den Farben des ihn umgebenden Lichts auf. Der fließende Übergang deutet das vollkommene Eingehen Christi in die Herrlichkeit Gottes an. Er schwebt ohne sichtbare Anstrengung nach oben und zieht sein Leichentuch mit sich. Zwar ist der Himmel noch dunkel, aber er wird von Christus her erleuchtet.

Die Lichtsymbolik zeigt Christus als aufgehende Sonne. Keine irdische Macht kann ihn mehr halten, keine Wächter, kein Stein, der auf dem Grab ruht, nicht der Felsen im Hintergrund, nicht einmal der Tod selbst. Das Leben setzt sich durch und wird für den Betrachter ansichtig. In dieses Licht können alle Menschen eingehen und sich wie der Auferstandene selbst hineinziehen lassen. Damit spricht der Isenheimer Altar in die Gegenwart des Betrachters. Mitten im Tod, aber auch mitten im Leben, ereignet sich Auferstehung und führt über beide hinaus in das Licht Gottes. Das Leben bricht sich Bahn – jetzt und auch im Tod.

Matthias Grünewald (circa 1480 bis 1528), der Maler des Altars, setzt damit die zentrale Hoffnung des christlichen Glaubens ins Bild. Mit den Mitteln einer Erzählung versucht dies auf seine Weise auch der Autor des Johannesevangeliums. In der Geschichte von der Auferweckung des Lazarus kommen die entsprechenden Dimensionen des Auferstehungsglaubens zusammen. Gegenwart und Zukunft fallen im Glauben und der Auferstehungshoffnung zusammen.

In Johannes 11 wird Lazarus aus Bethanien vorgestellt, der Bruder von Maria und Marta. Er ist schwer krank, und seine Schwestern lassen deshalb Jesus rufen. Doch Jesus kommt nicht. Er hat andere Pläne und weiß von Anfang an, dass diese Krankheit nicht zum Tode führt. Deshalb überrascht es den Leser, dass Lazarus doch stirbt.

Diese Irritation zeigt dabei schon die Ironie der Erzählung an. Hier geht es nicht um eine historische Begebenheit, sondern um eine theologische Lehr-Erzählung. Wäre es anders, zeigte diese Geschichte einen äußerst hartherzigen und grausamen Jesus. Denn obwohl Jesus weiß, dass Lazarus seine Hilfe braucht, geht er nicht zu ihm, sondern wartet ab, bis er gestorben ist. Jesus freut sich sogar darüber, um an Lazarus ein Beispiel statuieren zu können, mit dessen Hilfe die Jünger zum Glauben kommen sollen. Endlich bricht Jesus zu den Schwestern auf, die um ihren Bruder trauern. Vier Tage liegt Lazarus nun schon im Grab. Damit ist nach antiker Vorstellung der Tod endgültig, und die Seele hat den Verstorbenen verlassen.

Als Marta hört, dass Jesus nun doch noch kommt, geht sie ihm entgegen und redet ihn an: „Herr, wenn du hier gewesen wärst, hätte mein Bruder nicht sterben müssen!“ Darin liegt keine Enttäuschung, sondern ein unzerstörbares Vertrauen. Sie fährt fort: „Aber auch jetzt weiß ich: Alles, worum du Gott bittest, das wird er dir geben.“ Der Tod ihres Bruders und die unterlassene Hilfeleistung Jesu bringen ihren Glauben nicht ins Wanken. Deshalb sagt ihr Jesus auch zu, dass ihr Bruder auferstehen wird. Das versteht Marta nicht. Sie antwortet: „Ich weiß, dass er auferstehen wird – bei der Auferstehung der Toten am letzten Tag!“

Sie versteht nicht, dass die Auferstehung in Person bereits vor ihr steht. Jesus weist sie deshalb ausdrücklich darauf hin: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt. Und wer lebt und an mich glaubt, wird niemals sterben.“ Diese Antwort Jesu erscheint paradox. Schließen sich Tod und Leben nicht aus? Wie kann man leben, auch wenn man stirbt?

Obwohl Marta dies nicht versteht, hält sie an Jesus fest. Der Leser hat aber einen anderen Standpunkt, er versteht, dass der Tod des Lazarus der Erzählabsicht des Autors dient. Die Frage Jesu an Marta („Glaubst du das?“) richtet sich demnach eigentlich an den Leser. Kann er glauben, dass mitten im Leben sich bereits die eigentliche Form der Auferstehung ereignen kann? Dann versteht er auch, dass kein Gegensatz zwischen dem irdischen Sterben, das jeder Mensch erleiden muss, und dem eigentlichen (wenn auch irdisch verborgenen) Leben besteht. Wenn er das glauben kann, dann bekommt das Bekenntnis, das Marta stellvertretend für den Leser spricht, seine eigentliche Tiefe: „Ja, Herr, ich glaube fest: Du bist der Christus, der Sohn Gottes.“

Als Jesus zum Grab ihres Bruders gehen will, zeigt sich, dass Marta nicht verstanden hat. Beide Schwestern wollen Jesus davon abhalten, das Grab zu öffnen: „Herr, er stinkt schon. Es ist doch schon der vierte Tag.“ Trotz des Vertrauens, das die Schwestern in Jesus setzen, sind sie doch in ihren menschlichen Vorstellungen gefangen. Deshalb demonstriert Jesus seine besondere Beziehung zu Gott. Er befiehlt, dass Lazarus aus dem Grab herauskommen soll.

Nur „wegen der Leute“, die anwesend sind, und nur „damit sie glauben“, dass Jesus von Gott gesandt wurde, nur deshalb erweckt er Lazarus wieder zum Leben. Deshalb diente dessen Krankheit von Anfang an der Verherrlichung Gottes. Deshalb musste er zunächst sterben, damit er wieder zum Leben erweckt werden kann. Das Wunder dient also als Demonstration und Illustration des göttlichen Wesens Jesu. Lazarus selbst spielt keine Rolle. Er ist nur ein Demonstrationsobjekt, ein Gegenbild zur wahren Auferstehung, zur Auferstehung Jesu. Sein Leichnam ist noch mit Binden umwickelt, sein Gesicht ist mit einem Tuch verhüllt.

Ganz anders der auferstandene Christus, der, wie Matthias Grünewald zeigt, seine Tücher problemlos mit sich zieht und mit einem neuen hoheitlichen Gewand gekleidet ist. Lazarus wird wieder sterben, aber Christus nicht. Er geht in eine neue Existenzform über. Der Auferstandene hat zwar noch die Wundmale Jesu, hat aber den Tod für sich und für alle, die an ihn glauben, endgültig überwunden.

Die Auferstehung Jesu darf also nicht mit der Wiederbelebung eines Leichnams verwechselt werden – so wie bei Lazarus. Es handelt sich vielmehr um eine neue Schöpfung, um das Leben in der Existenzform, wie es von Gott geschenkt wird. Im Gegensatz zu Lazarus stirbt jeder, der an Christus glaubt, nicht mehr den gleichen Tod wie Lazarus. So löst sich die doppelte Redeweise bei Johannes auf. Der biologische Tod des Menschen vernichtet nicht die Essenz des glaubenden Menschen. Diese wird vielmehr bei Gott bewahrt. Seine Identität, das, was ihn im Innern ausmacht, kann nun nicht mehr sterben. Auferstehung ist also ein Prozess, der sich im Leben wie im Tod vollzieht. Johannes lässt in der Lazarusgeschichte offen, wie er sich die Auferstehung am Ende der Zeit vorstellt. Sie interessiert ihn nicht primär, und er überlässt sie dem Geheimnis Gottes. Was er aber festhält, ist die Auferstehung zum Leben in der Gegenwart des Glaubens.

Die fiktiven Figuren Maria und Marta haben dabei einen Vorsprung vor dem jeweiligen Leser des Evangeliums: Sie sehen die Demonstration des Wunders. Der Glaube kann sich aber gegenwärtig darauf nicht mehr beziehen. Er kann sich nur auf die Evidenz des Erlebens stützen. Das Erleben von Momenten der Auferstehung im Leben ist seine Grundlage. Momente der Auferstehung sind Erlebnisse von Glück, von Vergebung, von Barmherzigkeit. Momente, in denen die Ewigkeit durch die Gegenwart scheint. Diese Momente des Gefühls bilden den Grund des Glaubens.

Lazarus wird auferweckt, damit die Menschen glauben. Aber selig ist nach Johannes eigentlich der, der nicht sieht und doch glaubt (Johannes 20, 29). Johannes erzählt diese Geschichte also deshalb, damit seine Leser in ihrem Glauben gestärkt werden, auch wenn sie die Auferweckung des Lazarus nicht miterlebt haben. Der auferstandene Christus – wie er uns in dem Bild von Grünewald vor Augen steht – und der erzählte Christus – wie er uns im Johannesevangelium vorgestellt wird – zeigen also auf ihre Art, warum Ostern das höchste Fest der Christenheit ist und warum wir es heute immer noch feiern dürfen: Weil die Auferstehung Jesu unser eigenes Leben betrifft, uns mit Zuversicht und Vertrauen erfüllt und uns dadurch besser leben lässt. Wir werden mitten im Leben und mitten im Tod zum Leben befreit.

Meistgelesene Artikel