Ein Tiger unter den Insektenvölkern

Die Gottesanbeterin ist ein Tier des Südens – Jetzt breitet sich die Fangschrecke auch in Deutschland aus

Wenn sie ihre Beine anwinkelt, sieht sie aus wie im Gebet: Die Europäische Gottesanbeterin (Mantis religiosa), hier aufgenommen in Halle an der Saale, ist die einzige in Mitteleuropa vorkommende Vertreterin der Ordnung der Fangschrecken. Foto: epd

Schon die alten Griechen nannten sie Mantis, die Seherin. Sie sahen in der Fangschrecke offenbar eine Verwandte der drogenumnebelten Wahrsagerin von Delphi. „Mantis religiosa“, so bezeichnete sie deshalb auch der Erfinder der biologischen Systematik, Carl von Linné. Ihr deutscher Name: Gottesanbeterin. Doch wenn die Schrecke, umschleiert von zarten grünen Flügeln, ihre Vorderbeine zum Himmel reckt, betet sie nicht. Sie lauert.

„Sie ist der Tiger unter den friedliebenden Insektenvölkern, der seinen Tribut an frischem Fleisch fordert“, schrieb Jean-Henri Fabre schon vor mehr als 100 Jahren. Sie schnappt blitzschnell zu und frisst kleinere Insekten wie Spinnen. Der französische Insektenkundler Fabre hat sich ihre „Raubbeine“ genau angesehen: „Die Hüftkeule ist auffallend lang und kräftig“, schreibt er, „denn die Mantis wartet nicht auf ihr Opfer, sie sucht es.“ Die langen Schenkel gleichen einer Säge, das Unterbein einer Harpune. Das bekam auch Fabre schmerzhaft zu spüren.

Heute muss man sich nicht mehr wie er in die südfranzösische Einöde zurückziehen, um die Europäische Gottesanbeterin zu beobachten. Auf dem ehemaligen Güterbahnhof in Berlin-Schöneberg wurde 1998 eine Mantiden-Population entdeckt. Wie sind die Tiere dorthin gekommen? Sind sie mit einem Zug aus dem Süden eingereist? Ist ein Eigelege von einem Zug mit Labor­müll herabgefallen? Oder haben „Naturfreunde“ sie ausgesetzt?

Niemand weiß das. Jedenfalls haben die Berliner Fangschrecken neue Forscher auf den Plan gerufen. Manfred Klaus Berg, eigentlich Gartenbautechniker, beobachtet sie seit Jahren und hat ein Fachbuch über die Gottesanbeterin verfasst. Manfred Keller, Diplom-Ingenieur für Medizintechnik, hat die Mantiden in seiner Freizeit fotografiert und hält jetzt auch Vorträge über die Gottesanbeterin: „Der Güterbahnhof ist ungestört und sehr schön warm. Er bietet Eiablageplätze an der Unterseite der Schienen oder im Gleisschotter und genug Insekten als Futtergrundlage.“

Nicht nur in Berlin, auch in anderen östlichen Bundesländern breiten sich die Insekten aus, die eigentlich als Tiere des Mittelmeerraumes gelten. Vor allem an den Rändern von Tagebaugebieten, etwa in Nochten in der Lausitz, fühlen sie sich wohl, auch auf Truppenübungsplätzen. Von 14 Fundorten ist die Rede, davon wurde die Hälfte erst im vorigen Jahr entdeckt: in Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Sachsen. Die Gesamtzahl der Individuen kennen auch die Berliner Amateurforscher nicht.

Begünstigt der Klimawandel die Ausbreitung dieses wärmeliebenden Insekts? Das untersucht die Biologin Catherine Linn in ihrer Dissertation an der Universität Mainz. Noch ist ihre Studie in der Begutachtungsphase. Aber eines lässt sich schon jetzt sagen: „Es wird vermutet, dass die Mantis über die Burgundische Pforte ins südliche Baden-Württemberg eingewandert ist und sich unter der Zunahme von Hitzeperioden des Klimawandels weiter nach Norden ausbreitet.“

Seit den 1990er Jahren seien auch stabile Populationen im südlichen Rheinland-Pfalz bekannt, und Fundmeldungen aus dem Moseltal bei Trier deuteten auf eine zweite Einwanderungsroute über Luxemburg hin. Vereinzelte Funde soll es bereits 1756 einmal bei Frankfurt am Main gegeben haben. Die Berliner Population sei genetisch verwandt mit den Mantiden in Tschechien, erklärt Linn. Die sächsischen Gottesanbeterinnen könnten aus Polen durch das warme Elbtal eingewandert sein. Die kalten polnischen Winter können den Eigelegen (Ootheken) nichts anhaben, weil die Eier in einem erhärteten Schaumsekret bis zu minus 40 Grad überstehen. Aufgrund des trockenen Frühjahrs vermutet Linn ein Populationswachstum.

„Aus einem Eigelege kommen durchschnittlich 150 Jungtiere von der Größe einer Waldameise“, erläutert Manfred Keller. Die Männchen werden fünf bis sechs Zentimeter, die Weibchen sechs bis sieben Zentimeter groß. Von klein auf fressen sie andere Insekten: Bienen, Fliegen, Milben, Heuschrecken. Nach bis zu sieben Häutungen schlüpft aus der Larve das erwachsene Tier. Im August fand Fabre nur noch wenige Männchen: So manches Weibchen hatte seinen Partner gefressen und sich dessen kostbares Eiweiß zugunsten der Brut einverleibt. Claudia Schülke

Brachflächen bei Fischbach ein bevorzugter Lebensraum

Biologe Ulrich Diehl: Große Population der Gottesanbeterin in der Westpfalz – Niedriger Status auf der Roten Liste der gefährdeten Spezies

Legt sie ihre Beine aneinander, um auf Beute zu lauern, scheint es als bete sie. Das hat den Gottesanbeterinnen ihren Namen eingebracht. Auch wenn sie es weltweit auf mehr als 2000 Arten bringen, machen sie nur eine kleine Gruppe der Insekten aus. Ursprünglich in Nordafrika beheimatet, sind sie zum europäischen Mittelmeerraum vorgedrungen und mittlerweile sogar bis in die Pfalz.

Hier waren sie anfangs hauptsächlich im milden Klima der Rheinebene anzutreffen. „Jetzt ist ihre Population in der Westpfalz so groß, dass sie auf der Roten Liste nur noch einen niedrigen Status als gefährdete Spezies haben“, sagt Ulrich Diehl, Geschäftsführer des Biosphärenhaus Pfälzerwald/Nordvogesen in Fischbach bei Dahn. Der Klimawandel sei es, der sie Richtung Norden gelockt habe. Die Gottesanbeterin mag es nämlich warm.

Bleibt die Frage, wie die Tiere die weiten Strecken zurückgelegt haben. „Sie können zwar fliegen, aber weder besonders gut noch besonders weit und auch laufend kommen sie nicht gerade zügig voran“, so der Biologe. „Wahrscheinlich haben sie sich mit einer Kombination aus beidem mühsam vorangekämpft.“ Bevorzugter Lebensraum der Gottes­anbeterin seien Brachflächen, die mit der Zeit verbuschen. „Wie etwa die amerikanischen Liegenschaften bei Fischbach. Das sind riesige Flächen mit offenen Bereichen, deren Bewuchs Heidecharakter hat.“

In Hellgrün und Braun vorkommend, erweisen sich die bizarren Insekten als Meister der Tarnung. Je nach Farbe ihrer Population wählen sie das passende Geäst aus. Dort warten die Lauerfänger in der typischen Gebetshaltung geduldig auf Beute. Nähert sich ein Insekt, schlagen die Fangbeine blitzschnell zu. „Auch wenn sie für Feinde nur schwer auszumachen sind, verfügen Gottesanbeterinnen für den Notfall über eine Abschreckungsmethode. In Gefahr drohen sie mit den großen Augenflecken auf ihren Vorderbeinen.“

Dennoch ist ihr Leben von kurzer Dauer. Vom Zeitpunkt des Schlüpfens im Juni oder Juli bleiben ihnen nur zwei, drei Monate, um sich zu paa­ren. Seit der französische Naturwissenschaftler Jean-Henri Fabre vor knapp 120 Jahren berichtete, dass das Weibchen kurz nach oder sogar während der Begattung das Männchen verschlingt, galten die Gottesanbeterinnen als kaltblütige Gattenmörderinnen. Zumal sie auch noch körperlich überlegen sind. „Die Männchen sind nicht dicker als eine Kugelschreibermine, die Weibchen bringen es auf den Umfang eines Fingers, um Raum für die Eier zu haben“, erläutert Ulrich Diehl. Ihr schlechter Ruf als Liebeskannibalinnen wurde mittlerweile ausgemerzt. Versuche haben gezeigt, dass es den Männchen nur in den beengten Verhältnissen eines Käfigs an den Kragen geht. In freier Natur entkommen sie dem Liebesakt in der Regel ungeschoren. Friederike Jung

Meistgelesene Artikel