Chancen und Grenzen der Inklusion

Nicht immer sind Regelschulen das Beste für das Kind – Leistungsdruck auf erstem Arbeitsmarkt als Hürde

Wird ernst genommen und gehört: Andreas Kaiser an seinem Arbeitsplatz in den Werkstätten Kaiserslautern-Siegelbach. Foto: Jung

Inklusion ist ein Menschenrecht, das in der UN-Behindertenrechtskonvention verankert ist. Der Umsetzung hat sich Deutschland 2009 verpflichtet. Seither währt die Diskussion, was genau Inklusion bedeutet und wie sie sich praktizieren lässt, wo ihre Chancen, aber auch ihre Grenzen liegen. Verschiedenartigkeit ist der Normalfall, sagt die Inklusion und macht Schluss mit der Einteilung in behinderte und nicht behinderte Menschen. Doch längst sind nicht alle Voraussetzungen erfüllt, um dem Anspruch gerecht zu werden. Und es bleibt offen, ob das inklusive Modell in seiner ganzen Konsequenz für jeden geeignet ist.

Von guten Erfahrungen weiß eine Otterberger Familie zu berichten. „Unsere Tochter Jana hat eine Lernschwäche, ihre Motorik ist verzögert“, erklärt Margarete Kaldi. „Dennoch hat sie einen Regelkindergarten und anschließend eine Schwerpunktschule besucht, ohne dass es zu Problemen gekommen ist.“ Sicher gebe es Hürden, die genommen werden wollen, „und kein Kind ist wie das andere. Aber wir sind mit unserer Entscheidung gut gefahren“, sagt ihr Mann Stefan Kaldi, selbst Lehrer von Beruf. Für die Eltern ist das Miteinander behinderter und nicht behinderter Kinder eine Chance, voneinander zu lernen und sich aufeinander einzulassen.

Mittlerweile besucht Jana eine weiterführende Schwerpunktschule in Kaiserslautern. Dort komme sie gut klar, werde akzeptiert und fühle sich wohl. „Sollte sich das ändern, haben wir auch kein Problem damit, unsere Tochter auf eine Förderschule zu geben“, sagt Stefan Kaldi und lässt keinen Zweifel an der Existenzberechtigung dieser Schulform. Denn nicht von ungefähr besuchen trotz des Rechts auf inklusive Beschulung in Deutschland noch drei Viertel der knapp 500 000 Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf Förderschulen. Das sieht auch Inge Wolf (Name geändert) so. „Wir haben es mit einer Regelschule versucht, aber dort ging unser Sohn aufgrund seiner Schwerhörigkeit unter. Also haben wir ihn auf eine Schule für Hörgeschädigte gegeben.“ Ein Schritt, der den Eltern von einigen als inklusionsfeindlich angekreidet wurde. „Das ist Unsinn, wir sind durchaus für Inklusion. Aber letztendlich kommt es doch darauf an, was für das Kind das Beste ist und dass es die optimale Förderung bekommt.“ Deshalb sei es wichtig, Fördereinrichtungen zu erhalten, um aus unterschiedlichen Modellen das passende auswählen zu können.

Auch auf beruflicher Ebene stoße die Inklusion immer mal wieder an Grenzen. Nicht jeder fühle sich auf dem ersten Arbeitsmarkt wohl oder sei den Anforderungen gewachsen, räumt Dieter Martin ein. Er ist Inklusionsbeauftragter im Ökumenischen Gemeinschaftswerk Pfalz, in dem 1500 behinderte und nicht behinderte Menschen Seite an Seite arbeiten. „Wir bieten ein differenziertes System der beruflichen Qualifikation mit internen und externen Maßnahmen.“ Sie dienen dazu, die Menschen fit für den Arbeitsmarkt zu machen. Mit Erfolg, das Gemeinschaftswerk ist der größte Vermittler in Rheinland-Pfalz. „Allerdings kommt es schon mal vor, dass jemand in unsere Werkstätten zurückkehrt, weil er sich hier besser aufgehoben fühlt“, sagt Martin.

Das kann Andreas Kaiser gut nachvollziehen. Obwohl er einen regulären IHK-Abschluss als Datenverarbeitungskaufmann hat, pflegeunabhängig und mit einem eigenen Auto mobil ist, hat er sich nach mehreren Versuchen gegen den ersten Arbeitsmarkt und für eine Tätigkeit in den Siegelbacher Werkstätten entschieden. Der Entschluss ist ihm nicht leichtgefallen. „Ich hatte Angst, unterfordert zu sein, wollte nicht tagein, tagaus dasselbe tun, auch wenn ich aufgrund einer Spastik Probleme mit der Feinmotorik habe.“ Die Einschränkungen sind nicht groß, „aber an manchen Tagen geht mir die Arbeit nicht so leicht von der Hand. Doch darauf nimmt draußen keiner Rücksicht, da zählt nur die Leistung“. Diesem Druck entgeht er in den Werkstätten. Sein Job in der EDV ist anspruchsvoll, „aber wenn nötig, bekomme ich Unterstützung“. Außerdem werde jeder ernst genommen, gesehen und gehört. Ein demokratischer Umgang, der ihm gefällt. „Wir legen großen Wert auf Begegnungen in Augenhöhe und soziale Anerkennung“, bestätigt Dieter Martin.

„Inklusion ist keine Weiterentwicklung der Integration, sondern die Aufhebung von gesellschaftlichen Schranken“, sagt der landeskirchliche Beauftragte für Behindertenseelsorge, Pfarrer Thomas Jakubowski, „indem alle Menschen in die Gemeinschaft hineingenommen werden. So, wie wir es im Sinne von Jesus schon immer machen sollten.“ Etliches werde jedoch falsch verstanden, von Befürwortern wie von Gegnern. Inklusion sei eine Gesellschaftskritik, die einen veränderten Blick auf Menschen mit Behinderungen verlange. Es gelte nicht, ihnen neue Modelle unter anderen Vorzeichen überzustülpen, sondern sie als selbstbestimmte Gestalter ihres Lebens zu sehen. Ihnen müsse aber auch weiterhin Unterstützung geboten werden, wo sie unabdingbar sei. Vor allem aber sei zu klären, welche Bedürfnisse die Menschen für das gesellschaftliche Miteinander haben.

Dem schließt sich auch Lisa Schmiedt von der Evangelischen Jugendzentrale Otterbach/Lauterecken an. „Bei uns kann jeder mitmachen, natürlich auch Jugendliche mit Behinderungen.“ Um ihnen gerecht zu werden, werden im Vorfeld die notwendigen Unterstützungsmaßnahmen besprochen. „Soweit es möglich ist, geben die Betreuer Hilfestellung. Wer jedoch eine komplexe Pflege braucht, muss seinen Experten mitbringen.“ Manchmal machten allerdings die örtlichen Gegebenheiten einen Strich durch die Rechnung. Wie etwa beim jährlichen Mittelaltercamp auf der Moschellandsburg. „Wenn es regnet, ist dort kein Fortkommen mit dem Rollstuhl möglich. Deshalb können wir leider keine Rollifahrer mitnehmen.“ Unüberwindbare Hindernisse, die man akzeptieren müsse, „auch wenn wir unser Bestes tun, um Inklusion zu praktizieren und uns im kirchlichen Auftrag als eine Insel der Selbstverständlichkeit verstehen.“ Friederike Jung

Basis schaffen für Teilhabe aller

Unter dem Stichwort Inklusion fordert die UN-Behindertenrechtskonvention die selbstbestimmte, umfassende gesellschaftliche Teilhabe aller Menschen, unabhängig von ihren Fähigkeiten. Dafür sollen die Gemeinschaften, von der Kindertagesstätte bis hin zu Unternehmen, die Basis schaffen. In letzter Konsequenz würde Inklusion bedeuten, dass sämtliche Einrichtungen, die ausschließlich für Behinderte gedacht sind, abgeschafft werden müssten.

Kritiker sehen darin die individuelle Förderung beeinträchtigter Menschen gefährdet, denn nicht für jeden sei das inklusive Modell geeignet. Andere Wissenschaftler argumentieren, die jetzigen Rahmenbedingungen seien nicht ausreichend. Schon die schulische Inklusion gestalte sich schwierig wegen baulicher und personeller Defizite.

Auch 75 Prozent aller Lehrer in Deutschland sehen Probleme in erster Linie im Ausbildungsbereich, so eine Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach 2013. Und die Bertelsmann Stiftung ließ errechnen, dass für die 9300 zusätzlich benötigten Lehrkräfte jährlich 660 Millionen Euro aufgebracht werden müssten. Um die Kommunen in der Wahrnehmung ihrer schulisch-inklusiven Aufgaben zu unterstützen, gewährt Rheinland-Pfalz jährlich eine zusätzliche Finanzspritze in Höhe von zehn Millionen Euro. fdj

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