Auch Retter können zum Problem werden

von Nils Sandrisser

Nils Sandrisser

Über den Umgang mit Rettungspersonal ist derzeit jede Menge zu lesen und zu hören. Meist ist es nichts Gutes: Zu Silvester las man von angeblich beispiellosen Gewalttaten gegen Retter. Der Tenor lautet: Was ist das für eine brutale Gesellschaft geworden, die ihre Helfer schlägt und tritt?

Erst vergangenen Monat allerdings hat die Ruhr-Universität Bochum eine Studie veröffentlicht, die Gewalt gegen Rettungskräfte untersucht hat. Die Arbeit baut auf einer ähnlichen Studie aus dem Jahr 2011 auf. Ergebnis: Im Jahr 2017 wurden rund 90 Prozent der Mitarbeiter im Rettungsdienst mindestens einmal Opfer von Gewalt. Meist waren das Beleidigungen oder Gesten wie ein Stinkefinger. Einen Schlag oder Tritt abbekommen haben knapp 13 Prozent. Sechs Jahre zuvor waren die Zahlen fast identisch. Aber selbst wenn die Zahlen steigen würden, müsste das nicht an einer immer brutaleren Gesellschaft liegen. Es käme noch ein Faktor in Frage: die Retter selbst.

Aus der Sicht eines Patienten bedeutet ein Notfalleinsatz neben der Bedrohung seiner Gesundheit vor allem: Er muss einen Großteil seiner Selbstbestimmung aufgeben. Da kommen fremde Menschen in greller Einsatzkleidung, sagen ihm, was sie mit ihm tun werden und dass er ins Krankenhaus soll. Einsatzkräfte kennen die in diesen Fällen häufige Verzögerungstaktik der Patienten: Er müsse noch packen, jemanden anrufen oder eine rauchen. Es sind Versuche, sich einen Rest Autonomie zu erhalten. Manchmal verteidigt ein Mensch seine Autonomie aggressiv. In den meisten Fällen, so die Studie, geht die Gewalt vom Patienten aus, nicht von Gaffern.

Gewalttätige Situationen kommen selten überraschend, sondern bauen sich langsam auf. Als Außenstehender sollte man meinen, dass Rettungsdienstpersonal über Empathie verfügt, die das vermeiden kann. Die Innensicht von Hilfsorganisationen zeigt aber vielfach ein anderes Bild. Natürlich sind viele Notfallsanitäter empathisch, kompetent und charakterlich geeignet. Aber die Personalknappheit zwingt die Hilfsorganisationen schon lange, Menschen einzustellen, die genau das nicht sind.

Besonnene Retter nennen solche Kollegen „Rettungsrambos“ oder „Blaulichtgeile“. Ihre Motivation für den Beruf ist zweifelhaft. „Willst du einen Charakter eines Menschen erkennen, so gib ihm Macht“, soll Abraham Lincoln gesagt haben. Kleinen Menschen reicht auch kleine Macht. Etwa die Macht darüber, einem Patienten zu sagen, was er zu tun hat. Oder die Macht, die man spürt, wenn alle Autos vor einem zur Seite fahren müssen. Das Blaulichtmilieu zieht solche Charaktere an. Will man ungeeignete Bewerber heraushalten, müsste man Psychologen zu den Einstellungstests hinzuziehen – wo es solche Tests denn gibt. Nur müsste man dann die Bezahlung massiv steigern und die Arbeitsbedingungen massiv verbessern, um ausreichend Bewerber zu finden.

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