Wir feiern darum erst recht das Leben

von Martin Vorländer

Martin Vorländer

Die Passionszeit war lang. Sie begann in diesem Jahr vor ihrer Zeit am 7. Januar mit den Terroranschlägen auf die Redaktion der Satirezeitung Charlie Hebdo in Paris und auf einen jüdischen Supermarkt. Es folgte Katastrophe auf Katastrophe, mal näher, mal ferner: die Massaker der Terrorgruppe Boko Haram in Nigeria. Die Attentate auf ein Kulturcafé und eine Synagoge in Kopenhagen. Die Ebola-Epidemie in Westafrika. Der brüchige Waffenstillstand in der Ukraine. Bürgerkrieg ohne Ende in Syrien, neuer Bürgerkrieg im Jemen. Weltweit so viele Flüchtlinge wie seit 1945 nicht mehr. In Deutschland ist die Hilfsbereitschaft groß, aber auch die Aggression, die sich bei den Pegida-Demonstrationen entlädt.

Anfang März wütete einer der stärksten je gemessenen Zyklone über dem Inselstaat Vanuatu im Pazifik. Bereits Anfang Februar stürzte ein Passagierflugzeug in Taipeh ab. Seit vergangener Woche versuchen wir in Deutschland, Spanien und Frankreich den Schock zu verkraften, dass ein Copilot anscheinend absichtlich sich und 149 andere Menschen in den Tod gerissen hat. Karfreitag auf Karfreitag. Die Aufzählung der Ereignisse ist nicht vollständig und trotzdem schwer erträglich. Schon melden sich Kritiker: Die Betroffenheit werde übertrieben. Die Sondersendungen und Medienberichte nach dem Flugzeugabsturz berauschten sich gegenseitig. Moderatoren und Gäste in den Talkshows sprächen nur noch im weihevollen Seelsorge-Ton. Schließlich gebe es zu allen Zeiten Unglücke, Kriege und Katastrophen, deren Tote wir nicht derart betrauern, weil sie weit weg sind.

Das stimmt. Aber es ist menschlich, dass man stärker mitfühlt, je näher der andere ist. Jeden Tag verunglücken Menschen, erkranken lebensbedrohlich, erleiden einen schweren Verlust oder verstricken sich in Schuld. Das wissen wir. Und doch ist es etwas anderes, wenn es die Kollegin, den Freund, die eigene Familie trifft. Ein ganz normaler Flug von Barcelona nach Düsseldorf. Man selbst hätte in der Maschine sitzen können oder jemand, den man kennt.

Das bedeutet Passionszeit. Den Schmerz nicht wegschieben, sondern mitfühlen. Wer weinen kann über eigenes und fremdes Leid, entwickelt Sensibilität für das, was Menschen bedroht, gefährdet, zerstört. Das durchbricht zumindest zeitweilig das Paradox, mit dem wir leben: Wir wissen, dass wir sterben müssen, und glauben es doch nicht.

Entscheidend ist, nicht in der ­Passionszeit und beim Karfreitag ­stehen zu bleiben. Die Sehnsucht nach Ostern ist groß. Zu Recht. ­Gerade weil jetzt vor Augen steht, wie plötzlich der Tod hereinbricht, ist das Leben so kostbar. Kostbar ist die Freude daran, jedes kleine bisschen Trost und jeder Funke Hoffnung, dass wir nicht ins Nichts stürzen, sondern unser Leben ein Ziel hat. Denn das ist Ostern: Wir wissen um den Tod und feiern darum erst recht das Leben.

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