Finger in die Wunde des Sozialstaats legen

von Stephan Bergmann

Stephan Bergmann

Du hast keine Lobby, aber nutze sie. So oder ähnlich muss es häufig sozialen Dienstleistern in den Ohren klingen, wenn es um ihre Belange im politischen Berlin geht. Anderen geht es da deutlich besser: von der Autoindustrie bis zur Versicherungswirtschaft ist Lobbyarbeit eher von Erfolg gekrönt. Der hohe gesellschaftliche Nutzen vieler sozialer Dienste hingegen entspricht nicht ihrer Wertschätzung durch Staat und Kostenträger. Und das wiederum beeinflusst Jobsuchende und Auszubildende bei ihrer Berufswahl. Diese ist ja auch ein Reflex auf das öffentliche Image, auf Bezahlung und Arbeitsbedingungen.

Umso alarmierender ist der Nachwuchs- und Stellenmangel vor allem in denjenigen Berufen, die ganz nahe am Menschen orientiert sind. Von Kindertagesstätten über Einrichtungen in der Jugend- und Sozialarbeit bis hin zu Krankenhäusern und Altenheimen gibt es Stress wegen der Überlastung des Personals bei niedrigen Gehältern und einem chronischen Mangel an Finanzen und Fachkräften. Besonders krass sieht es bei den Erzieherinnen und beim Pflegepersonal aus: Bis zu 40000 Erzieher sollen in Deutschland immer noch fehlen, und im Pflegebereich könnte schon in einigen Jahren die Versorgungslücke bei 200000 Vollzeitkräften liegen. Der demografische Wandel mit seiner inzwischen deutlich verschobenen Alterspyramide ist eine der größten Herausforderungen für unseren Sozialstaat. Deshalb müssen mehr Angebote und damit auch mehr Personal für den ambulanten wie den stationären Bereich und für neue Formen des betreuten Wohnens her.

Ebenso herausfordernd sind allerdings auch die Begleiterscheinungen der digitalen Revolution auf die frühkindliche Sozialisation. Das Einüben von respektvollem Umgang, die Immunisierung gegen Abstumpfung und Verrohung erfordern viel Personal und hohe Professionalität. Derweil rangiert der verantwortungsvolle Erzieherberuf bei Ansehen und Gehalt weiterhin hinter den Lehrern. Es ist vor allem den kirchlichen Wohlfahrtsverbänden und den Gewerkschaften zu verdanken, dass sie trotz oft bescheidener Erfolgsaussichten immer wieder den Finger in die Wunden des Sozialstaats legen.

Allerdings hat selbst die jüngste Pflegereform, die Anfang Januar in Kraft getreten ist, in Sachen Personalbudget kaum nennenswerte Fortschritte gebracht. Und auch in den Kindertagesstätten herrscht trotz inzwischen besserer Rahmenbedingungen an vielen Orten immer noch akuter Notstand. Gerade in einem Wahljahr mit prall gefülltem Staatssäckel sollten die Menschen die Politik deshalb daran erinnern, dass soziale Daseinsfürsorge eine Kernaufgabe ist – mit Blick auf die Finanzierung, aber auch auf das Wertschätzen von Berufen und Mitarbeitern im Sozialbereich. Soziale Arbeit braucht eine starke Lobby. Sie ist kein Selbstläufer.

Stephan Bergmann war lange Zeit Kommentator der Tagesthemen.

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