Die Türkei steht jetzt am Scheideweg

von Hartmut Metzger

Hartmut Metzger

Hinterher sind alle schlauer, wird wohl jeder sagen, der die vergangenen zehn Jahre der Geschichte der Türkei am Rande Europas Revue passieren lässt. Die Türkei verabschiedet sich. So hat es den Anschein, jedenfalls nach der Lesart ihres Autokraten Erdogan, der nicht erst seit der Abstimmung über sein privates Ermächtigungsgesetz das Land, die Bewohner und die Türken in Deutschland tief gespalten hat. Wer sich von der Gewaltenteilung verabschiedet – sich Legislative, Exekutive und Jurisdiktion zu Untertanen macht –, verabschiedet sich von der Demokratie. Wer sich aber von der Demokratie verabschiedet, braucht „alternative“ Herrschaftsinstrumente: jedenfalls keine freien Medien, sondern eine gut geölte staatliche Propagandamaschine, große Gefängnisse und weil diese auf die Dauer doch nicht groß genug sein werden: auch die Todesstrafe.

Europa hat in diesen Jahren viele Fehler gemacht. Europa hat seine Chancen nicht genutzt, die demokratischen Kräfte in der Türkei zu stärken. Selbst bei der sehr hohen Wahlbeteiligung von über 80 Prozent sprach sich am vergangenen Sonntag – trotz der mutmaßlich manipulierten Auszählung – nach Erdogans Zahlen fast die Hälfte der Türken gegen seine Machtgelüste aus. Und dieses große demokratische Potenzial ist Erdogans Problem. Die halbe Bevölkerung kann er nicht hinter seinen Gefängnisgittern verschwinden lassen. Sie wird Wege finden, sich zu äußern: über den angeblichen Putsch sowie über die inhaftierten Lehrer und Journalisten. Die nächsten Monate werden spannend werden, sowohl in der Türkei als auch in Deutschland. Denn hier haben ja angeblich mehr als 60 Prozent der in Freiheit lebenden Türken für die Unfreiheit ihrer Landsleute in der Türkei gestimmt.

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