Die neue Unkultur im öffentlichen Raum

von Bernd Becker

Bernd Becker

Im öffentlichen Raum hat sich in den vergangenen Monaten eine furchtbare Streitkultur entwickelt. Oder eher eine Unkultur. Menschen unterschiedlicher politischer Meinung scheinen nicht mehr miteinander reden zu können. Jeder bringt seine Argumente vor, aber es kommt zu keiner Verständigung. Es wird nicht miteinander geredet, sondern gegeneinander.

Besonders an Themen wie dem Islam oder der Flüchtlingspolitik scheiden sich derzeit die Geister. Immer wieder stellt sich die Frage: Diskutiere ich da überhaupt mit, oder denke ich mir nur meinen Teil? Ganz extrem ist die Entwicklung in den Kommentarspalten im Internet. Erschreckend, wie schnell und wie heftig der jeweils Andersdenkende beleidigt, beschimpft und sogar bedroht wird.

Seit Anfang des Jahres haben es sich einige Internetnutzer zur Aufgabe gemacht, dem etwas entgegenzusetzen. Unter dem Motto „Ich bin hier“ sorgen sie für eine bessere Diskussionskultur in den sozialen Medien. Statt Hass, Lügen und Hetze wollen sie ein sachliches und freundliches Miteinander. Mehr als 22?000 Frauen und Männer machen hier schon mit. Sie äußern ihre Meinung, greifen aber niemanden an und werten andere nicht ab.

Die Erfahrung, die sie machen: Wenn 300 Leute Gerüchte und Lügen verbreiten oder aggressiv werden, kann die Stimmung schnell eskalieren. Kommen aber 100 andere mit sachlichen Informationen und konstruktiven Vorschlägen hinzu, wendet sich das Blatt. Die Auseinandersetzungen im Internet werden dann konstruktiver und mehr von Fakten als von Emotionen bestimmt.

Vorbild dieser überparteilichen Facebook-Gruppe ist die von der Journalistin Mina Dennert gegründete Initiative #jagärhär aus Schweden. In Deutschland erhält „Ich bin hier“ auch Unterstützung von Prominenten, etwa der ZDF-Moderatorin Dunja Hayali. Weil sich die TV-Journalistin für eine „offene Diskussionskultur“ einsetzt, erhielt sie erst kürzlich den Robert-Geisendörfer-Preis der evangelischen Kirche.

„Bleibe immer höflich und sachlich, und halte dich an Tatsachen“, dieser Leitfaden von „Ich bin hier“ erinnert an einen Ausspruch des Apostels Paulus. Im Brief an die Christen in Kolossä schreibt er: „Eure Rede sei allezeit freundlich und mit Salz gewürzt, dass ihr wisst, wie ihr einem jeden antworten sollt.“ Also steht es auch Christen gut an, sich an öffentlichen Diskus­sionen zu beteiligen und nicht zu schweigen, wenn gehetzt und beleidigt wird. Ob auf dem Marktplatz oder im Internet. Erschreckend, wie aktuell die Ermahnung des Apostels heute wieder ist. Meinungen dürfen demnach durchaus mit Salz gewürzt sein, aber sie sollen eben freundlich rüberkommen. Nur wer mitredet, kann auch etwas bewirken. Vor allem aber, wenn er auf Krawall und Hass mit Fakten und Freundlichkeit reagiert.

Der Autor ist seit 2013 Direktor des Evangelischen Presseverbands für Westfalen und Lippe in Bielefeld.

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