Die Reformation ist keine Schuldgeschichte

von Martin Schuck

Martin Schuck

Wohl selten hat in der Geschichte des Protestantismus ein Thema so lange im Mittelpunkt des kirchlichen Interesses gestanden wie das Reformationsjubiläum 2017. Aber ein ganzes Jahrzehnt lang die Reformation als Gründungsimpuls für die evangelischen Kirchen feiern zu wollen, konnte nicht durchgehalten werden. Die katholische Kirche drängte auf Beteiligung und ließ keinen Zweifel daran, dass sie sich einer einseitig positiven Würdigung der Reformation widersetzen würde. Die „Kirchenspaltung“ sei schließlich kein Grund zum Feiern, sondern allenfalls zum Gedenken einer gemeinsamen Schuldgeschichte mit der Bitte um Versöhnung.

Bei aller Vorfreude auf die großen Events im kommenden Jahr müssen die Protestanten eingestehen, dass sich in den theologischen Beiträgen und liturgischen Feiern diese katholische Sicht durchgesetzt hat. Deutlich wird das in dem am 16. September 2016 veröffentlichten gemeinsamen Wort der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz mit dem Titel „Erinnerungen heilen – Jesus Christus bezeugen“. Dort wird neben einem Liturgieentwurf für einen Buß- und Versöhnungsgottesdienst ein theologischer Text geboten, der eine „Heilung der Erinnerung“ ermöglichen möchte.

Die beabsichtigte Heilung der Erinnerung lehnt sich an das politische Projekt „Healing of Memories“ für Schwarz und Weiß in den 1990er ­Jahren in Südafrika an. Vonseiten der Kirchen wurde es erstmals in Rumänien erprobt, wo verschiedene konfessionell geprägte Volksgruppen nach dem Ende des Kommunismus sich gegenseitig die Schuld für Verfehlungen in der Zeit der Diktatur vorwarfen.

Mit diesem Ansatz banalisieren die Autoren die vor 500 Jahren sehr intensiv geführten theologischen Debatten um die Wahrheit des Evangeliums und bewerten diese nur von ihren späteren Folgen her, nämlich den Religionskriegen. Wenn gesagt wird, der Papst und die Bischöfe hätten damals nicht die Kraft gehabt, die Vorgänge in Deutschland und der Schweiz „angemessen einzuschätzen und konstruktiv zu reagieren“, und auf der anderen Seite sei „der Eigensinn der reformatorischen Bewegung stärker ausgeprägt als der Wille zur Einheit“, dann erscheint die Reformation als Folge von Trägheit, Eitelkeit und anderen moralischen Defiziten. Die Schuldgeschichte beginnt dann nicht bei den Kriegen, sondern bei der menschlichen Haltung der Reformatoren, die für ihre Vorstellung von Wahrheit die Einheit der Kirche verantwortungslos aufs Spiel gesetzt hätten.

Am Ende bleibt die Erkenntnis: ­Wären die Theologen vor 500 Jahren so empathisch, klug und sensibel gewesen wie heutige Ökumeniker, dann hätte es keine Reformation, keine ­Kirchenspaltung und auch keine evangelischen Kirchen geben müssen, und die Einheit der abendländischen Christenheit unter dem römischen Papst wäre erhalten geblieben.

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