Politische Fragen sind keine Bekenntnisse

von Martin Schuck

Martin Schuck

Mit ihrer einladenden Haltung in der Flüchtlingsfrage macht sich die evangelische Kirche bei Politikern nicht nur Freunde. Vor allem von der rechtspopulistischen AfD werden die Kirchen dafür angegriffen, dass sie muslimischen Flüchtlingen mit der gleichen Offenheit begegnen wie christlichen – obwohl doch Christen in ihren Herkunftsländern nicht selten Verfolgungen ausgesetzt seien. Hilfebedürftigen eine mitfühlende Haltung entgegenzubringen, sei als menschliche Geste im Einzelfall zu begrüßen, könne aber keine generelle Lösung für staatliches Handeln sein, so die AfD-Vorsitzende Frauke Petry in einem Interview, in dem sie die Haltung der Kirche in der Flüchtlingspolitik als „verlogen“ bezeichnete.

Kann man Petrys Äußerungen als Position einer Außenseiterin ignorieren, so wiegt die Kritik von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble, selbst evangelischer Christ, ungleich schwerer. In einem Beitrag zum Reformationsjubiläum warnte er vor einer zu starken Politisierung der evangelischen Kirche: „Wir haben heute viele politische Protestanten, was für unsere Demokratie gut und wichtig ist. Manchmal aber entsteht der Eindruck, es gehe in der evangelischen Kirche primär um Politik, als seien politische Überzeugungen ein festeres Band als der gemeinsame Glaube.“

Schäubles Warnung muss deshalb ernst genommen werden, weil sie nicht nur die Wahrnehmung eines Einzelnen wiedergibt, sondern auf den grundlegenden Unterschied zwischen politischer Haltung und religiösem Bekenntnis aufmerksam macht. Ein mündiger Christ steht mitten im Leben; dazu gehört ganz selbstverständlich, dass er eine politische Haltung hat und diese auch vertritt. Dabei darf angenommen werden, dass der christliche Glaube einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Bewertung politischer Alltagsfragen ausübt. Allerdings kann nicht angenommen werden, dass diese Bewertung bei allen Christen gleich ausfällt. Nun dürfen und sollen Kirchen Orte bereitstellen, wo über eine angemessene christliche Haltung zu politischen Fragen diskutiert werden kann. Es darf jedoch niemals der Eindruck entstehen, als gäbe es irgendwelche kirchlichen Agenturen, die im Namen aller evangelischen Christen eine Art „Meinung der Kirche“ in politischen Fragen aussprechen können.

Es sind nur wenige Gelegenheiten denkbar, wo politische Haltungen häretisch wirken, also direkt das Evangelium verleugnen. Bei der Haltung zum Nationalsozialismus oder zur Apartheid in Südafrika war das der Fall. Aber welche politischen Konsequenzen ein Protestant aus dem Klimawandel zieht, wie er über Obergrenzen für Flüchtlinge oder den Gebrauch von gendergerechter Sprache denkt, darf nicht zur Bekenntnisfrage stilisiert werden. Hier sind die Theologen in der Kirche aufgefordert, für Klarheit in der Sache zu sorgen und, wenn nötig, einen Gang zurückzuschalten.

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