Die Not der einen und die der anderen

von Stephan Bergmann

Stephan Bergmann

Deutschland geht es gut. Deutschland hat aus der Geschichte gelernt und sich selbst hohe ethische Standards gesetzt. Deshalb ist es richtig, von Krieg und Terror verfolgte Menschen aufzunehmen. Während allerdings die „Flüchtlingskrise“ zum Megathema für Politik und Medien geworden ist, geraten andere Problemanzeigen ins Hintertreffen. Dabei haben zum Beispiel gerade erst mehrere Sozialverbände kritisiert, dass jedes fünfte Kind in Deutschland in einer einkommensarmen Familie aufwächst. Zum Beispiel wird sogar im aktuellen bayerischen Sozialbericht festgestellt, dass das Risiko von Altersarmut weiter zunimmt – bereits 22 Prozent der Senioren im Freistaat sind gefährdet. Gleichzeitig klafft in Deutschland eine besonders große Kluft zwischen Arm und Reich. Das birgt zunehmend sozialen Sprengstoff – nicht erst seit dem Flüchtlingsansturm.

Während die reichsten zehn Prozent der Deutschen über 60 Prozent des Vermögens verfügen, werden große Erbschaften und hohe Kapitalerträge wesentlich gnädiger besteuert als das Einkommen aus Arbeit. Damit die Gerechtigkeitslücke in Deutschland wieder kleiner wird, müsste sich aber nicht nur in der Steuer- und Abgabenpolitik einiges ändern und von so manchem Millionär mehr Gemeinsinn eingefordert werden; es müsste auch im Niedriglohnsektor, im Wohnungsbau und nicht zuletzt im Bildungssystem einiges passieren. Noch kommen viel zu viele kinderreiche Familien und Alleinerziehende kaum über die Runden. Noch allzu oft bestimmt die Herkunft den beruflichen Werdegang. Und das alles in einem reichen Land.

Sicher: Ein Leben an der Schwelle zur Armut hierzulande ist nicht vergleichbar mit der Not in der Dritten Welt. Bei uns geht es eher um Teilhabegerechtigkeit und Chancengleichheit in einer stark auseinanderdriftenden Wohlstandsgesellschaft. Im Licht einer solidarischen Flüchtlingsintegration stellen sich diese lang verdrängten Fragen ganz neu.

Der Staat muss jetzt erst recht mehr Mittel in den sozialen Bereich stecken. Ihn dazu zu bewegen, dafür sind insbesondere unsere Kirche und ihre Diakonie prädestiniert. Sind sie es doch, die neben ihrem Engagement für Flüchtlinge gleichzeitig auch jetzt Partei für alle Bedürftigen und Schwachen in unserem Land ergreifen und diesen mit ihren bewährten sozialen Diensten tatkräftig helfen. Mit ihrem parallelen Wirken tun sie das eine – ohne das andere zu vernachlässigen. Das sollten sie in der Öffentlichkeit ruhig noch offensiver vertreten. Kirche und Diakonie können beispielhaft dazu beitragen, dass die Not vieler hierzulande nicht gegen die Not der Hilfe suchenden Flüchtlinge ausgespielt wird.

Die Lösung beider Probleme muss ineinandergreifen – auch damit der soziale Frieden nicht in Gefahr gerät und rechtsextreme Hetzer noch mehr Zulauf bekommen. Solidarität und Gerechtigkeit gehören zusammen.

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