Zum Feiern nie zu alt

Ü-90-Party in Südhessen lockt jedes Jahr viele Senioren an • von Carina Dobra

Strahlende Gesichter: Beim Auftritt der Kinderballettgruppe „Grieseler Rote Funken“ ­klatschen die Senioren taktsicher mit. Foto: epd

„Die Sorgenbrecher“ heizen den Damen und Herren mit Klassikern von Peter Kraus und Co. ein. Foto: epd

Die Erdbeerbowle mit und ohne Alkohol ist der Renner auf der Party. Foto: epd

Rund 740000 Menschen in Deutschland sind mindestens 90 Jahre alt. Die meisten sind pflegebedürftig oder bettlägerig. Aber nicht alle. Wer noch fit ist, kann auf der Ü-90-Party im südhessischen Bensheim richtig Spaß haben.

Noch etwas Sahne drauf?“, schreit der junge Kellner gegen „Tulpen aus Amsterdam“ an. Die weißhaarigen Damen am Tisch nicken kräftig, während sie gemeinsam zum Takt der Musik wippen. Sie lehnen sich zur Seite, damit der Mann mit der Sprühdose an die Teller mit dem Erdbeerkuchen kommt. Im Hintergrund klirrt Geschirr; Bässe von Saxofon und Akkordeon hallen durch die normalerweise beschauliche Cafeteria.

Im Sozialzentrum der Arbeiterwohlfahrt im hessischen Bensheim an der Bergstraße herrscht heute Ausnahmezustand. Einmal im Jahr, immer im Mai, startet hier die Ü-90-Party. Inzwischen eine etablierte Größe im Bensheimer Festkalender.

„Erst wurde die Idee belächelt“, erinnert sich Sigrid Schmeer, Leiterin des Sozialdienstes im AWO-Zentrum Bensheim. Der Einfall ist der Stadt zum Hessentag 2014 gekommen. Auf dem großen Landesfest war Premiere. „Die Stadt ist damals auf uns zugekommen und hat gesagt: Es wird so wenig für alte Leute getan“, erzählt Schmeer. Gerade in Hessen zeigt sich die Politik jedoch bemüht: Ab 2020 etwa soll das Seniorenticket kommen. Ab dem 1. Januar sollen Senioren mit Bus und Bahn durch ganz Hessen fahren – für einen Euro am Tag. Ein solches Ticket gibt es bisher nur für Schüler.

Deutschlands Senioren können bereits aus einer Vielzahl von Freizeitangeboten auswählen: Seniorennachmittage mit Kaffee, Kuchen und Bingo, Seniorenreisen, vergünstigter Eintritt in Schwimmbäder, Freizeitparks, Konzerte und Ausstellungen oder Kurse über den richtigen Umgang mit dem Smartphone sind nur einige Beispiele. Die Idee einer Ü-90-Party hingegen ist neu. Eingeladen wird seit der Premiere nur, wer den 90. Geburtstag hinter sich hat – oder am Tag der Party 90 wird. Da sind die Organisatoren streng. Wer erst 89 ist, muss sich noch ein Jahr gedulden. „Das ist ein Ansporn für die Leute“, erzählt Tanja Eichelbaum vom AWO-Sozialzentrum.

Mithilfe einer Liste aus dem Bürgerbüro schreiben Mitarbeiter der 41000-Einwohner-Stadt die Senioren an. In diesem Jahr waren es 380, erzählt Andrea Schumacher von der Stadtverwaltung, die die Party mitorganisiert. Für das Programm lädt das Team Musiker aus der Gegend ein, die schon von Seniorentagen oder dem Winzerfest bekannt sind.

„Die Sorgenbrecher“ gehören zur Stammbesetzung. Das Männer-Duo spielt Hits von Peter Kraus und Cliff Richard. Viele der Feiernden können die Lieder mitsingen. Die Luft im Saal ist stickig. Der 81-jährige „Sorgenbrecher“ Helmut Gondolph nimmt seine Kapitänsmütze ab und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Mit seinem Akkordeon zieht er von Tisch zu Tisch. Bei Hermine Schuster macht er Halt.

Heute ist ihr 93. Geburtstag. Es gibt einen Blumenstrauß und einen Händedruck vom Bensheimer Bürgermeister Rolf Richter (CDU). „Ich bin eigentlich kein großer Partymensch“, verrät das Geburtstagskind. „Aber es ist ganz schön, mit anderen zusammenzukommen.“

Rund 70 Senioren sind der Einladung gefolgt. Auch Ellenrut Taubitz und ihr Mann Erich haben es sich am Ende eines Tischs direkt am Fenster gemütlich gemacht. Sie schunkeln und lachen zusammen. Die 95-Jährige ist schon zum ­fünften Mal dabei. „Ich erkenne das hoch an, dass die Stadt das macht. So fühlt man sich wie in der Mitte der Gemeinschaft“, lobt die gebürtige Saarländerin das Konzept. Das Ehepaar wohnt ganz in der Nähe in einem kleinen Reihenhäuschen, wie die fitte Seniorin erzählt. Zweimal im Monat kommt die Putzfrau. Ansonsten erledigt sie alles selbst: Waschen, Bügeln, Putzen. „Ich mach’s gern“, betont Taubitz.

95 Jahre. Mit Blick in die Zukunft kein außergewöhnliches Alter mehr. Mehr als jedes dritte neugeborene Mädchen (37 Prozent) wird einer aktuellen Studie zufolge seinen 100. Geburtstag erleben. Laut den Berechnungen des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung liegt die durchschnittliche Lebenserwartung von 2017 geborenen Mädchen bei 94,8 Jahren. Schon heute sind rund 740000 Menschen in Deutschland mindestens 90 Jahre alt.

„Ich bin viel geschwommen früher und hab’ Gymnastik gemacht, auch im Alter“, erzählt Taubitz. „Und“, sie hebt den Zeigefinger, „ich laufe jeden Tag zum Einkaufen, wenn ich nicht so viel zum Tragen habe. Ich glaube, das hält jung.“

Ewig jung bleiben. Das wünschen sich viele. Kein Wunder also, dass die Regale in Buchhandlungen sich beinahe biegen vor Ratgebern, die das Rezept zum Jungbrunnen versprechen. Auch das Internet ist voll von solchen Tipps. Ausgiebiges Wandern, Treppe statt Lift, Jogging fürs Gehirn. Das empfiehlt auch das Bundesgesundheitsministerium in einer Broschüre. Doch all das ist kein Garant für ein langes und gesundes Leben.

So agil wie Ellenrut Taubitz sind nicht alle im Raum. Viele hören nur noch wenig, einige sind dement. „Die nehmen das hier nicht bewusst als Party war, aber die Atmosphäre und die Musik. Die alten Lieder schaffen Erinnerungen“, sagt AWO-Kollegin Eichelbaum. Sie steht zufrieden im Türrahmen. Neben ihr lehnen Rollatoren zusammengeklappt an der Flurwand. Ein paar Minuten kann die Gastgeberin durchatmen. Gerade sorgen die „Grieseler Rote Funken“ für Stimmung.

Die fünf Mädchen von der Kinderballettgruppe hocken mit ihren neonfarbenen Tüllröcken auf dem Boden. Im Takt zu „We will rock you“ klopfen sie mit ihren flachen Händen auf den Boden. Zu „I love Rock’n’Roll“ läuft die Truppe klatschend durch die Menge. Die Partygäste machen mit, einige heben ihre Hände in die Höhe. „Zugabe!“, ruft ein älterer Herr.

Von Müdigkeit keine Spur. Noch. „Zwei Stunden schaffen die schon. Aber dann …“, sagt Schmeer. „Kommt auch Unruhe auf“, ergänzt ihre Kollegin Schumacher.

Eskapaden habe es in den sechs Jahren Partygeschichte noch nicht gegeben, beteuert Schmeer. „Es wird jetzt nicht total abgerockt. Aber auch alte Menschen können feiern“, betont Gudrun Frehse vom örtlichen Deutschen Roten Kreuz. Sie hilft heute mit, serviert Kuchen, schenkt Kaffee aus und hat für alle ein offenes Ohr. Bei der selbst gemachten Erdbeerbowle, dem „Highlight der Party“, entscheide sich die Mehrzahl der Gäste für die Variante mit Alkohol, erzählen die Frauen und lachen.

Die freiwillige Helferin, Gudrun Frehse, genießt die zufriedenen Gesichter der Gäste am Ende des Tages. „Man wird viel angesprochen und auch mal gedrückt. Das gefällt mir“, erzählt sie und strahlt. „Viele alte Menschen sind einsam. Hier können sie Leute treffen, Kaffee trinken. Das ist mal was anderes“, erklärt sich Frehse den Erfolg der Feier.

Das Alleinesein ist die Schattenseite des Immer-Älter-Werdens. Wie die Ergebnisse des Deutschen Alterssurveys 2017 zeigen: Im sehr hohen Alter kommt es zu einem Anstieg der Einsamkeit, bei Frauen etwas stärker als bei Männern. Insbesondere bei Menschen über 80 Jahren besteht ein deutlich höheres Risiko einer sozialen Isolation, wenn Problemlagen dazukommen, die Einsamkeit begünstigen. Dazu gehören zum Beispiel Schicksalsschläge, Erkrankungen, abnehmende körperliche Mobilität, mangelnde Mobilitätsangebote, zunehmende Altersarmut oder Migrationshintergrund. Viele entscheiden sich deswegen etwa für eines der bundesweit rund 540 Mehrgenerationenhäuser. Das sind Begegnungsstätten für Jung und Alt, die das selbstbestimmte Leben von Frauen und Männern im Alter fördern.

Ende September plant das Bundesseniorenministerium ein internationales Seminar zum Thema Einsamkeit und soziale Isolation im Alter. Ziel soll der Austausch von Erfahrungen und die Diskussion von Lösungswegen mit anderen EU-Ländern sein. Die EU-Kommission fördert das Projekt. Auf lokaler Ebene könnte die Ü-90-Party ein Anreiz für andere Städte und Gemeinden sein. Das jedenfalls hoffen die Veranstalter. Einen Termin für das kommende Jahr gibt es noch nicht. Feststeht aber: Auch 2020 findet die Ü-90-Party statt. Das versichert Tanja Eichelbaum von der AWO. Dann können sich diejenigen freuen, die in diesem Jahr noch zu jung waren und nicht dabei sein durften.

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